Die Stoffsammlung für die Erinnerungen meiner Jugend habe ich als Soldat während es Krieges begonnen. Folgende Eintragung in einem Oktvavheft leitet diese Notizen ein:

 

Es ist heute der 29.Juni 1944.

Ich sitze in der Luftnachrichtenkaserne Hottengrund in Berlin-Kladow. Da ich dienstlich kaum beschäftigt bin, fange ich erneut an, meine Jugenderinnerungen niederzuschreiben.

Ja, ich beginne ein zweites Mal bereits.

Das erste Mal begann ich im Jahre 1942, im August war es, in Duisburg. Ich sass damals im Flugwachkommando als überzähliger Offzier und, um mich zu beschäftigen, begann eine Arbeit, die ich für einen geruhsamen Lebensabend aufgehoben hatte. Als ich einige Zeit später nach Deelen bei Arnheim in Holland versetzt wurde, hatte ich wieder Arbeit, und die Schreiberei blieb liegen. In Deelen blieb ich lange und im zweiten Winter war ich wieder schwach beschäftigt und fuhr in meinen Erinnerungen fort, bis ich auf diese Weise bis zum Jahr 1908 gekommen war, bis zu jenem Zeitpunkt, wo ich als zwölfjähriger Junge von Buenos Aires nach Deutschland in die Schule geschickt wurde.,

Es kamen in Holland wieder fleissige Monate. Ich wurde Kompanieführer in Doetinchem und hatte keine Zeit für geruhsame Privatarbeit. Plötzlich war auch das zu Ende und ich wurde nach Berlin-Kladow kommandiert, und zwar zu einer belanglosen Dienststelle, bei der ich wieder einmal nicht voll beschäftigt war. Ich nahm wieder den Faden meiner Erzählung auf.

Als ich zwischendurch auf eine Dienstreise geschickt wurde, packte ich einige wichtige Sachen, die nicht Fliegerangriffen zum Opfer fallen sollten, in meinen Koffer, dazu gehörten meine Notizbücher mit den Erinnerungen. Ausgerechnet dieser Koffer verbrannte dann bei einem Fliegerangriff, den ich in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes mitmachte und so verlor ich meine Notzien. So muss ich nun ein zweites Mal mit meinen Erinnerungen beginnen.

 

Meine Jugendzeit, bis ich mit fasst dreißig Jahren in Solingen sesshaft wurde, war sehr bewegt. Außer meiner Mutter lebt niemand, der all die Wanderungen kannte, die ich als Kinder mit der Familie oder allein gemacht habe. Ich möchte aber, das mein Sohn Martin später von mir alle Wanderungen kennen soll. Darum sollen diese Notizen für ihn sein, der heute schon, als Achtjähriger, solch Interesse für Geographie zeigt und so viel Sinn für exakte Daten hat.

Diese Freude an der Geographie hatte ich schon früh als Kind. Welcher Zauber lag stets für mich im Betrachten einer Landkarte! Wie viel Freude machte mir mein erster Schulatlas! Es war nicht nur, dass ich auf einer Karte die Lage von Ländern und Städten sah. Der Reiz wurde größer in dem Maße, wie ich Gegenden aus Erzählungen kennenlernte und auf einer Landkarte wiedererkannte. Ich entsinne mich, dass ich fast mit Erfurcht den mir aus Lederstrumpf-Erzählungen bekannten Ontario-See auf einer Karte entdeckte.

Nach und nach belebte sich die Landkarte der Erde mit Gestalten von Cooper, Gerstäcker, Marryat und anderen Schriftstellern. Eine Steigerung war es, als ich auch merkte, wie man eigene Fahrten und Reisen auf einer Landkarte verfolgen konnte, sei es auf Land oder auf See, denn ich bin ja schon in sehr jungen Jahren über den Ozean hin und her gefahren. Meine erste Seereise ging nach Europa.

Textfeld: 1896Ich bin ja „drüben“ geboren. „Drüben“ ist für den Überseedeutschen immer die andere Seite des Ozeans. So wie wir in Südamerika unter „drüben“ immer Deutschland meinten, so bedeutet es heute für mich Südamerika. Meine Eltern lernte sich in Brasilien kennen und haben dort geheiratet. Sie sind nicht gemeinsam ausgewandert. Mein Vater stammte aus Melle, im Regierungsbezirk Osnabrück. Sein Vater hatte eine Metallwarenhandlung, die seit drei Generationen im Besitz der Familie Farwig war.

Mein Grossvater, Arnold Farwig, war mit seinen Brüdern nach England gezogen. Nur ungern kam er nach Melle zurück, als er das elterliche Geschäft übernehmen musste. Seine Brüder blieben in England und deren Familien haben die Verbindung mit Deutschland verloren. Im Telefonbuch von London ist der Name Farwig mehrfach zu finden. Es soll in Südwestengland auch eine kleine Ortschaft dieses Namens geben.

In Deutschland blieb als einziger Namensträger mein Grossvater. Er heiratete Johanna Pörtner aus Bünde in Westfalen. Sie hatten zwei Söhne und zwei Töchter. Der älteste Sohn, Carl, hat nie geheiratet. Er hat das elterliche Geschäft übernommen, das er später wegen Krankheit verkaufte. Er lebte dann als bescheidener Rentner in Hannover, wo er während des ersten Weltkrieges starb. Seine Schwester Anna heiratete den Rittergutsbesitzer Herbert Wolters in Elze bei Hannover, den sie um fast dreißig Jahre überlebte. Sie hat mir in meiner Kinderzeit viel Gutes erwiesen und ich werde von ihr noch zu erzählen haben. Die andere Tochter, Auguste, habe ich nicht mehr kennengelernt. Sie war mit Arnold Brune aus Melle verheiratet, der später in Hamburg von den Ersparnissen seiner Arbeit in Brasilien lebte.

Als mein Vater, der jüngste der vier Geschweister, seine Lehre und Einjährigendienstzeit hinter sich hatte, wurde er von seinem Schwager Brune aufgefordert, einige Jahre in Brasilien zu arbeiten. Mein Grossvater hatte beabsichtigt, das Familiengeschäft nicht dem älteren Sohn Carl, sondern meinem Vater zu übergeben. Da er jedoch ohne Testament starb, übernahm Onkel Carl das Geschäft und mein Vater liess sich nach Brasilien sein Erbteil überweisen. Das Geld legte er in einem Hause an und verlor alles bald, wie er auch das Erbteil meiner Mutter verlor und ihm überhaupt im Leben alles erfolglos durch die Finger rann.

Meine Mutter war als junge Lehrerin von einer reichen brasilianischen Familie in Frankfurt als Erzieherin für die jungen Töchter angestellt worden und war mit dieser Familie erst nach Paris und dann nach Sao Paulo gereist. In Sao Paulo lernte sie meinen Vater kennen und sie heirateten dort.

Mein Bruder Kurt und ich wurden beide im Vorort Villa Marianna in Sao Paulo geboren.

Textfeld: 1897Mein Vater hatte sich selbständig gemacht und besaß eine Sägerei. In wenigen Jahren war aber schon der Bankrott da, und das Vermögen meiner Mutter – rund 30.000 Mark – wurde noch verschlungen, fast ehe meine Mutter noch von ihrem Erbteil erfuhr. Der Bankrott war katastrophal, denn mein Vater hatte anscheinend gar nicht bemerkt, dass seine Mitarbeiter unter seinem Namen unlautere Manipulationen begangen hatten. Es grenzte an betrügerischen Bankrott, nur dass mein Vater aus Ungeschicklichkeit hineingeglitten war.

Auf jeden Fall schien es für ihn unzweckmäßig, in Brasilien zu bleiben. So verließ er das Land – und seine Gläubiger – und fuhr nach Argentinien, um von vorne anzufangen.

Er hat noch oft von vorne angefangen. Ich kenne meinen Vater eigentlich kaum anders, als das er gerade wieder von vorne anfing. Er hat viele Stellungen in Argentinien gehabt, aber keine hat gedauert. Immer waren natürlich andere Leute oder Umstände schuld, wenn er wieder einmal wechseln musste. Den besten Trost gab ihm dann stets ein kräftiger Trunk. Mein Vater liebte es, von Zeit zu Zeit solche Ermunterung zu sich zu nehmen. Er ist zwar nie betrunken gewesen, aber seine berufliche Leistungsfähigkeit musste wohl von diesem, im kleinen betriebenen Laster zermürbt worden sein.

Diese Erkenntnisse hatte meine Mutter im Laufe der Jahre gewonnen. Zunächst glaubte sie auch nur an ein vorübergehendes Pech und versuchte mit ihrer Kraft, zum Aufbau einer neuen Existenz beizutragen. Sie blieb zunächst noch einige Zeit in Brasilien, wo sie mit Sprachunterricht für uns Jungens und sich sorgte. Dann, wir beide waren vier und drei Jahre alt, folgten wir nach Buenos Aires. Das Schiff, das uns von Brasilien nach Argentinien brachte, hatte eine besonders lange Reise, denn vor Buenos Aires mussten wir zwei Wochen in Quartantane auf der Insel Martin Garcia, im Rio de la Plata, liegen. An Board war nähmnlich ein Fall von gelbem Fieber gewesen. Für meine Mutter, die mit zwei kleinen Kindern in ein sehr ungewisses Schicksal reiste, war dieser Aufenthalt eine Geduldsprobe. Mir selber sind aus jender Zeit keine Erinnerungen geblieben, dazu war ich noch zu klein.

Die ersten Schritte im neuen Lande waren für meine Eltern wenig hoffnungsfroh. Mein Vater hatte auf einer Estancia – einer argentinischen Farm – eine Buchhalterstelle gefunden. Kaum war die Familie nachgekommen, musst er er wechseln und auch die neue Stelle hielt er nicht, so dass wir wieder von der Provinz Cordoba nach Buenos Aires kamen.

Textfeld: 1900Meine Erinnerungen fangen dann in Buenos Aires an und zwar ist mein erstes Erinnerungsbild mein Geburtstag, als ich vier Jahre alt wurde. Wir wohnten in einer Fremdenpension in Buenos Aires. Kurt und ich hatten natürlich keine Gespielen, und so ein Geburtstag hatte nicht den kleinen Glanz eines Kinderfestes, wie wir sie erst viel später in Deutschland kennen lernten.

Textfeld: 1901Zusammenhängende Erinnerungen beginnen für mich erst in Tornquist, an der Südbahn, wo mein Vater wieder einmal eine Buchhalterstelle bei der Firma Ernesto Tornquist, nach der der kleine Bahnhof hieß, hatte.

Tornquist FCS (die alter Bezeichnung; Ferro Carril Sud = Südbahn) war damals ein Dorf,  wie sie in den fruchtbaren Ebenen Argentiniens haufenweise bestanden: Ein Bahnhof und eine einzige Strasse. Das Ganze hatte nicht den Stil des europäischen Dorfes, denn es war über Nacht aus der Erde gewachsen.

Wer Wildwestfilme sieht, kennt das stereotype Bild der Pionierstadt: eine sandige Dorfstrasse, durch die die hohen Räder der zweirädrigen Einspänner schneiden, dazwischen Reiter, die vom Pferde springen und den Zügel vor der Kneipe an kurzen Stänmen und Pfählen befestigen, die dafür eingerammt sind.

Dieses Bild stammt schon aus den alten Stummfilmen. Aber als ich den ersten Wildwestfilm sah, begegnete ich nur einem mir aus früher Kindheit vertrautem Panorama. Diese sandige Dorfstrasse zwischen primitiven Häusern war der Spielplatz meiner frühen Kindheit. Als ich mit fünf Jahren in das Dorf Tornquist kam, sah es ungefähr so aus, wie mir später amerikanische Filme Wildwest vorführen wollten. Zwar waren die Häuser nicht aus Holzn und hatten keine umlaufenden Veranden. Unsere Hütten waren aus ungebrannten Lehmziegeln und Wellblech. Aber die Dürre und Baumlosigkeit samt Reitpferden und Einspännern waren wie in den USA. Wir lebten nicht im Wilden Westen und die Leute waren weder Pioniere noch Goldgräber. Aber die damalge Periode wid in der Wirtschaftsgeschichte Argentiniens als Zeit der Kololnisation bezeichnet.

In der „Guia Peuser de Turismo“, einem Reiseführer für Autoreisende, wird 1962 Tornquist als ein Ort von 4.600 Einwohnern[1] genannt, den eine gute Autostrasse mit dem Provinzialpark „Sierra de la Ventana“ verbindet, der 30 km entfernt liegt und wo annähernd ein Dutzend moderne Hotels den Fremden locken.

Flache, einstöckige Ziegelhäuser, meist aus ungebrannten Lehmziegeln und Wellblechschuppen standen frei da, ohne Bäume oder Gärten.

Für uns Kinder war die Gegend natürlich schön. Es gab viel Raum zum Spielen und auch viele Spielgefährten.

Schulen gab es nicht. Da im Ort und der Umgebung einige deutsche Familien lebten, deren Kinder eine Schule brauchten, wurde eine deutsche Schule geschaffen. Das ist sehr einfach. Es wird ein Lehrer angestellt und da im Camp keine geprüften deutschen Lehrer zu finden sind, nimmt man irgendeinen einigermaßen gebildeten deutschen Stellungslosen. So taten das alle Landwirte für ihre Kinder. Dort war der Hauslehrer irgendeine verkrachte Existenz, ein gebildeter Mann ohne berufliche Chancen. Der musste schlecht oder recht die Kinder unterrichten, die Schweine füttern, in der Ernte helfen und andere Gelegenheitsarbeit machen.

Da es in Tornquist nioht nur eine deutsche Familie, sondern mehrere einen Lehrer für ihre Kinder brauchten, war alles stärker schulmässig aufgezogen. Ich halte es für möglich, dass unser Lehrer Albert sogar etwas vom Fach verstand. Ich weiss aber, dass die ganze Einrichtung zusammenbrach, als der Herr Lehrer eines Tages spurlos und ohne Vorwarnung verschwand.

Textfeld: 1903Dese Dorfschule erfasste natürlich auch Kinder, die kein Wort Deutsch sprachen, denn da es im Dorf keinerlei andere Schule gab, schickten auch Einheimische und Italiener ihre Kinder. So ist es übrigens in alIen damaligen deutschen Schulen Argentiniens gewesen. Das staatliche Schulsystem stand noch im Aufbau und auch in grossen Stadten schickten angesehene argentinische Familien ihre Kinder gerne in ausländische Schulen. In den untersten Klassen macht es Kindern nicht viel aus, wenn sie in einer fremden Sprache unterrichtet werden. Das Kind lernt mit dem ABC gleich eine fremde Sprache.

In diese primitive Dorfschule kam zunächst mein Bruder, und ich weinte an seinem ersten Schultag, weil Kurt eine Tüte Süssigkeiten bekam und ich nicht. Das ganze Jahr wartete ich nun auf den großen Tag, da auch ich eine Tüte bekommen sollte. Aber als es soweit war, hatte man die Sitte wieder aufgegeben, und ich bekam zum Schulanfang nichts!

Meine Schulzeit dauerte auch nicht lang, denn der Lehrer verschwand ja, wie bereits gesagt, eines Tages. Da setzte meine Mutter fur uns Brüder den Unterricht fort, und sie verstand das Handwerk wahrlich besser.

Bald war unsere Zeit in Tornquist auch zu Ende. Wieder einmal konnte mein Vater sich nicht halten, er war der Aufgabe nicht gewachsen und musste gehen. Der Vorgesetzte, der hier zu entscheiden hatte, war aber wohl etwas weichherzig gegenüber der Frau und den beiden Kindern, denn er bot meinem Vater eine andere Chance, nähmlich als Verwalter, "mayordomo" sagt man drüben, auf eine Estancia zu kommen, Eine Estancia ist ein Landgut südamerikanischen Ausmasses, auf dem überwiegend Viehzucht getrieben wird.

Die Estancia hiess "La Maria" und lag ebenfalls im Süden der Provinz Buenos Aires bei dem Orte Puan.

Für uns Kinder war es hier noch viel schöner als in Tornquist, denn wir wohnten ganz auf dem Lande. Bei den riesigen Entfernungen, wo keine Wege zu Fuss zurückgelegt werden können, war es natürlich, dass wir schon reiten lernen mussten. Mein Bruder und ich erhielten jeder ein Pony geschenkt.

Episode

Wir beiden Reiter boten sicherlich ein sehr verschiedenes Bild. Aber ich empfand eine vollkommene Gleichheit des Standes und des Aussehens.

Ich war sieben Jahre alt, strohblond und ritt ein kleines Pferdchen, das mir geschenkt.worden war. Man hatte mir das kleinste ausgesucht. damit ich ohne fremde Hilfe auf den Pferderücken klettern konnte.

Mein Begleiter war einer der typischen Viehhirten der argentinischen Pampa. Der Rasse nach war er ein Mestize, also ein Mischling zwischen Weissen und Indianern. Von seinem hohen Rosse schaute er andächtig auf mich, den Knirps herab.

Ich hielt ihm einen Vortrag über mein geographisches Weltbild. Wir lebten damals im Süden der Provinz Buenos Aires, nahe der Provinz La Pampa. Die Hauptstadt Buenos Aires lag rund 600 km Luftlinie nordöstlich von uns, Was ich natürlich nicht so genau wusste. In meinem Kindergehirn hatten sich Ortsnamen, die ich aus den Gesprächen Erwachsener gesammelt hatte, verwirrt. Nun glaubte ich, meinem älteren Freund darlegen zu können, wie ich mir die Weltkarte vorstellte.

"Wenn wir von hier abfahren, kommen wir nach Buenos Aires.“ Er wusste auch nicht wo die Hauptstadt lag oder wie sie aussah, aber um ihren Namen drehte sich das genze Wirtschaftsleben wie um eine Sonne, deshalb schien es der richtige Ausgangspunkt für eine Ortsbestimmung. Mein Freund nickte zustimmend.

"Dahinter“ - so fuhr ich fort – „liegt Brasilien".

Meine Eltern hatten, ehe sie nach Argentinien umzogen, in Brasilien gewohnt. Das Wort Brasilien gehörte zur Sammlung meiner Kinderphantasie.

"Hinter Brasilien liegt Deutschland", dozierte ich weiter. Deutschland war ein ganz grosser Name. Dort wohnten Onkel Carl und Tante Anna, zwar unklare Begriffe, aber nach der Ehrfurcht. mit der meine Eltern von diesen Verwandten sprachen (wie ich später erfuhr, weil sie begütert waren), musste auch Deutschland Ehrfurcht verdienen.

Das Gespräch mit meinem Reiterkameraden hatte mir erst Klarheit über die geographische Struktur der Welt gegeben. Meine Genosse auf dem grösseren Pferde nickte andächtig seine Zustimmung. Er bewunderte mein Wissen. Er konnte weder lesen noch schreiben, und sein grauer Kopf empfand nicht das Bedürfnis einer Landkarte. Vor meinem überlegenen Wissen beugte er sich mit bewundernder Anerkennung.

Als unsere Tante Anna auf ihrem Rittergut bei Hannover davon hörte, schrieb sie an meinen Vater, er solle doch seine Söhne nicht schon reiten lassen, das mache sie hochmütig. Darüber mussten meine Eltern lachen, denn das Reiten hat im argentinischen Camp eine andere Bedeutung als in Deutschland. Man ist in Argentinien auf dem Ross nicht hochmütiger als in Deutschland auf der Strassenbahn. Es gibt auf dem Kamp keinen Menschen, der so arm wäre, das er kein Pferd besäße. Ein Mann ohne Pferd ist ein toter Mann, sagt ein Spruch. In “La Maria” war natürlich keine Schule und unsere Mutter unterrichtete uns weiter.

Eine schöne Erinnerung bildet für mich die Tierwelt, die wir um uns versammelten. Zunächst waren da einige junge Pferdchen, die wir aufgezogen hatten. Wenn im Kamp ein Muttertier starb, gehörte das Junge dem, der es aufzog. So waren wir zu einigen Pferdchen gekommen, die so ungefähr mit uns Kindern aufwuchsen. Dazu kamen natürlich Hunde und Katzen, die überall auf dem Kamp in Mengen vorhanden sind. Es waren aber auch noch seltenere Tiere dabei. Von einer wilden Entenart, "avutardas", hatten wir Eier ausbrüten lassen. Die zahm gewordenen jungen Vögel standen in der Küche herum, dazu noch e1n zahmer junger Strauss, der manchmal meine Mutter erschreckte, wenn ein neugieriger Kopf am langen Halse von rückwärts über meiner Mutter Schulter lugte. Der Strauss war sehr jung im Kamp gefangen worden und bei uns aufgewachsen. Er steckte seinen Schnabel in alles und frass auch alles, auch unverdaubares  wie Porzellanscherben, die ihm nicht die Eingeweide zerfetzten. Wenn man einen Strauss schlachtet, findet man solch kuriosen Dinge in seinem Magen. Es sieht übrigens ulkig aus, wenn ein Strauss einen grossen Gegenstand schluckt, der dann als. sichtbare Schwellung seitlich an seinem langen Halse heruntergleitet. Kein zahmer Strauss bleibt aber lange im Hause. Eines Tages hat er den Drang, sich einen Ehegatten zu suchen., Dann ist er plötzlich in den Kamp zu seinesgleichen verschwunden und kommt nie zurück.

Strausse werden im Kamp zu Pferde mit Wurfkugeln, sogenannten "boleadoras", gejagt. Diese zwei Bleikugeln an geflochtenen Lederstreifen von ein bis eineinhalb Meter werden dem flüchtenden Tier in die Beine geschleudert. Man fängt auch Pferde mit Boleadoras, aber dann nimmt man drei Kugeln an stärkeren Lederstreifen. Der Strauss wird gefangen, um ihn zu essen, und er ist mir als recht schmackhaft in Erinnerung. Auch die Eier werden gegessen und entsprechen ungefähr sechzehn Hühnereiern. Man kann sie nur zum Backen, höchstens als Rührei verwenden, da sie etwas ölig schmecken.

Die schöne Zeit auf “La Maria" währte nur ein Jahr, dann musste mein Vater wieder fort. Dieses Mal hatte er nichts Neues in Aussicht, und wir mussten zurück nach Buenos Aires, um wieder einmal von vorne anzufangen.

Textfeld: 1904Zunächst fuhr meine Mutter mit uns Kindern vor. Wie so oft, musste sie wieder mit ihrer Arbeit das Brot für uns verdienen. Es kann sich das wohl keiner ausmalen, was das für eine junge Frau bedeutet, die mit zwei kleinen Kindern allein in einer fremden Großstadt, unendlich weit von der Heimat entfernt, eine Existenz suchen muss.

Wir zogen zunächst ins Heim des Deutschen Frauenvereins, in der Calle Laprida. Während unsere Mutter auf Suche nach Privatstunden und dem Unterricht nachging, hatten wir Kinder viel Freude im Heim, denn es waren noch mehrere Kinder dort. Wir kamen auch sofort in eine deutsche Schule, Kurt in die siebte, ich in die achte Klasse. Die "Germania Schule" war eine Realschule und wir waren in der Vorschule, wie es damals auch in Deutschland noch hiess.

Eine richtige Schule hatte ich bis dahin noch nicht erlebt, und ich benahm mich auch dementsprechend weltfremd. Auf allgemeine Fragen des Lehrers antwortete ich laut in die Klasse hinein, bis ich begriffen hatte, dass man sich erst mit einem erhobenen Finger melden musste. Bei der ersten Gesangsstunde kam ich in Verlegenheit, denn ich kannte das Lied nicht. “Wenn Du nun nicht mitsingst, schimpft der Lehrer”, dachte ich. Also sang ich "Stille Nacht, Heilige Nacht” laut in ein anderes Lied hinein, aber in der grossen Stimmenzahl des Chors fiel das nicht auf.

Die "Germania Schule" nimmt in meinen Kindheitserinnerungen einen grossen Raum ein. Ich habe sie in meiner unsteten Kindheit zwei Mal besucht. Es war eine von deutschen Schulbehörden im Reich anerkannte Realschule. Ich bin ja auch später von ihr ohne Schwierigkeiten auf eine Oberrealschule in Deutschland übergegangen. Wir hatten in Buenos Aires deutsche Lehrkräfte, darunter zahlreiche Oberlehrer, wie früher die Studienräte hiessen. In der Vorschule sassen Jungens und Mädels zusammen, aber dann trennten sich Höhere Töchterschule und Realschule. Ausserdem gab es noch eine Elementarschule, deren Pensum einer Mittelschule gleichkam.

Das Schulgebäude entsprach nicht den deutschen Begriffen, sondern bestand aus mehreren, nach allen Seiten offenen Flügeln, die über eine offene Galerie beziehungsweise direkt vom Hof betreten wurden. Alles war luftig und jedes Zimmer ging direkt ins Freie, weil es in Buenos Aires den grössten Teil des Jahres heiss war. Auf die wenigen Wintermonate war keine Rücksicht genommen worden. Dann froren wir mehr als in Deutschlands geheizten Klassenzimmern. Wenn wochenlang die Temperatur zwischen 10 und 15 Grad C stand, so war es in den ungeheizten Klassenzimmern recht kalt. Aber in Argentinien kannte man zu jener Zeit noch keinerlei Heizungseinrichtung. Im Winter fror man eben und sprach nicht darüber. Dafür war der Winter auch sehr kurz und der Sommer sehr lang.

Im Heim des Deutschen Frauenvereins konnten wir nicht dauernd bleiben, das durfte nur als Durchgangsquartier dienen, und unsere Mutter musste eine Wohnung suchen.

Inzwischen war meiner Mutter das Glück hold gewesen, und sie hatte in der "Germania Schule" eine Teilstellung erhalten. Die neunte Klasse, also die ABC-Schützen waren in jenem Jahrgang so zahlreich, dass Jungens und Mädels getrennt werden sollten. Meine Mutter wurde Klassenlehrerin bei den Mädels.

Als wir aus dem Heim ausziehen mussten, bot sich die Gelegenheit, im Schulgebäude ein grosses Zimmer zu mieten. Hier habe ich, der ich damals sieben Jahr alt war, zum ersten Mal im Leben im Obergeschoss eines Hauses gestanden und hinab geschaut. Ich kannte bisher vom Kamp nur einstöckige Häuser. Welch ein Erlebnis, wenn ich nun aus dem Fenster des zweiten Stocks herabschaute. Alle Begriffs der Perspektive wurden verschoben. Ich hatte den Eindruck, als ob die Grundstücke im Hintergrund terrassenförmig anstiegen, weil ich den Blick von oben herab nicht gewohnt war.

Da die "Germania Schule" von den argentinischen Behörden zugelassen war, mussten auch einige Pflichtfächer in der Landessprache unterrichtet werden. Das war Spanisch, Heimatkunde Argentiniens und argentinische Gesohichte. Diesen Unterricht erteilten einheimische Lehrkräfte.

Wie ich es schon in der Dorfschule erlebt hatte, waren auch in der Schule der Grosstadt Kinder, die kein Deutsch sprachen. Diese fanden aber sehr schnell den Anschluss, genau so wie  Kinder, die aus Deutschland frisch angekommen waren und kein Spanisch sprachen. Darauf wurde keine Rücksicht genommen.

Kinder nehmen sehr schnell eine neue Sprache an. Es wurde lediglich in der Vorschule eine Unterrichtsstunde Deutsch für die argentinischen Kinder eingelegt. Mir ist aber nie aufgefallen, dass ein Kind in Deutsch oder Spanisch Sprachschwierigkeiten hatte.

Wenn es galt, eine der regelmässig fälligen Schulfeiern vorzubereiten, so paarte sich dass Bestreben, das Deutschtum hochzuhalten mit dem schuldigen Respekt vor dem Lande. Die Weihnachtsfeier, die gleichzeitig Jahresabschlussfeier war, stand stärker im deutschen Stil, während am 25.Mai und 9.Juli argentinische Nationalfeiertage begangen wurden. Kaisers Geburtstag, der 27.Januar, fiel in die grossen Sommerferien.

Die Aula wurde stets mit deutschen und argentinischen Farben geschmückt, dazwischen stand als Mittelpunkt eine Büste des Kaisers. Der Chor sang stets nacheinander "Heil Dir im Siegerkranz” und die argentinische Nationalhymne. Gesanglehrer und Chorleiter war Herr Uebe, der Klassenlehrer der ABC-Schützen. Er musste in seiner untersten Schulklasse den Anfängern vieles gleichzeitig auf Spanisch erläutern, was er mit betont sächsischem Spanisch tat. Wenn er die argentinische Nationalhymne dirigierte, wartete ich stets auf folgenden für mich spannenden Moment. Der Refrain fällt jeh ins Fortissimo. Und dann rutschten Herrn Uebe seine steifen, losen Manschetten ("Röllchen" genannt) aus dem Rockärmel heraus über die Hand.

Die Weihnachtsfeier brachte neben den alten deutschen Liedern uns Kindern auch den Weihnachtsbaum, um die Stimmung dieses deutschen Christfestes zu schaffen. Aber dieser Baum war keine Tanne, die wächst so weit südlich nicht. Es war ein künstliches Gebilde aus Holz, Draht und grünem Papier und war zu­sammenlegbar. Es war ein gangbarer Artikel deutschen Exports an die heissen Länder.

Die argentinische Nationalfeier am 25.Mai - Gedenktag der Befreiungserklärung vom 25.Mai 1810 - wurde sehr feierlich gestaltet. Es war Herbst und gute Gelegenheit für die Erwachsenen, neue Winterkleidung einzuweihen. Ich erinnere mich, wie Kurt und ich - damals sieben und acht Jahre alt - neue Anzüge trugen, die zu einer kurzen, dunklen Jacke eine weisse Weste hatten. Die Jacke war am Halse mit Haken geschlossen, und darüber legte sich ein steifer, weisser Kragen mit grosser, dunkler Seidenschleife.

Zur argentinischen Feier hielt nicht der Direktor, sondern der argentinische Lehrer die Festrede, die dem dortigen Brauch entsprechend meist abgelesen wurde. Das Programm bestand dann überwiegend aus spanischen Rezitationen. Wir Kleinsten stellten auch einen Rezitator. Erst hatte die ganze Klasse das Gedicht auswendig gelernt, damit der beste Sprecher ausgewählt werden konnte. Wir lernten nicht nur die Worte, sondern auch die Gesten. Neben den Text schrieben wir die Regieanweisungen, z.B. (auf Spanisch) r.o., l.u., b.o., u.ä.m. Das bedeutete Rechte Hand oben, linke Hand unten, beide Hände oben. An der betreffenden Stelle wurde eine Hand oder beide gehoben oder gesenkt, oder eine Hand wies nach vorne oder ähnlich. Die Bewegungen wurden leblos, wie von Marionetten am Draht ausgeführt. Von den Schulfeiern habe ich stärkere Erinnerungen als vom Unterricht. Pausen waren mir auch lieber als Stunden. Ich war ein recht uninteressierter Schüler. Mein erster Aufenthalt in der "Germania Schule" dauerte nur ein und ein halbes Jahr, gerade bis zum Abschluss der Vorschule. In dieser Zeit hatten wir, nach kurzem Wohnen im Schulgebäude, in verschiedenen anderen Häusern möbliert gewohnt. Unsere Mutter lebte von der Schulstelle und Privatstunden. Dabei musste sie auch noch uns Jungens versorgen, was für sie sehr schwer war. Wir Kinder merkten das natürlich nicht. Bei mir zeigte sich damals schon der Wandertrieb, den ich mein Leben lang behalten habe. Nur dass sich die Wanderungen auf die Stadt beschränkten. Aber welche Fülle von Unbekanntem bietet solch Riesenstadt. Buenos Aires war damals schon eine Millionenstadt. Wenn ich auch nie ins eigentliche Zentrum ging, das war einem neunjährigen Jungen doch zu unheimlich, so wanderte ich doch manchmal alleine den weiten Weg zu den Hafendocks., Der Weg war wirklich weit, eine gute Stunde zu Fuß. Ich entsinne mich solch einer Wanderung, wohlausgerüst mit einer Münze von zehn Centavos; mit dieser konnte ich von jedem Punkt der Stadt auf der Strassenbahn zurückfahren. Also stiefelte ich den langen Weg zu den Docks und ging mit staunenden Augen, an den vielen Schiffen vorbei, deren Bordwände hoch über der Kaimauer türmten. Als ich dann wieder auf der Uferpromenade - damals Passee de Julis, heute Pases Leandro Alen stand, erwog ich die Frage: Sollte ich nun mit der Strassenbahn zurückfahren oder für meine Zehnermünze geröstete Kastanien kaufen? Ich entschied mich für die Kastanien und lief wieder den ganzen Weg zurück.

Das Stadtzentrum, in das ich gelegentlich mit Erwachsenen kam, war für mich erdrückend eng und belebt. Welch ein Verkehr in diesen Strassen, die die Gründer bewusst eng gehalten hatte, um Schatten zu spenden. Welche Vielheit der Fahrzeuge, vor all die mir so interessanten Strassenbahnen. Da waren schon die ersten elektrischen Wagen, deren Fahrer ständig auf eine laute Glocke trat. Schöner waren aber die vielen Pferdebahnen, bei denen der Fahrer entweder an einem Glöckchen, das über seinem Haupte hing, bimmelte, oder wo er in ein Horn, das vor seiner Nase hing, tutete, Das Strassenpflaster war aus dem Hartholz des argentinischen Urwalds geschnitten, eine Art Strassenparkett, und auf diesem Grund klang das Klappern der vielen Pferdehufe, von Bahnen und Kutschen eigenartig dumpf. Am fesselndsten war es für mich, vom Wartezimmer eines Arztes aus dem ersten Stockwerk, bei offener Balkontür, auf dieses Gewimmel herab zu starren.

Mein Vater war inzwischen auch in Buenos Aires angekommen und hatte nacheinander mehrere Stellen gehabt. Ein Mal war er Buchhalter in einer "barraca" im Vorort Barracas. Eine Barraca ist ein Lagerschuppen für Wolle und Felle, der wichtigen Ausfuhrprodukte des Landes. Alle Barracas lagen im Süden der Stadt. Dort wurde die aus dem Landesinneren kommende Ware versandfertig ein Ballen gepresst und dann zu den Überseeschiffen gefahren. Während Getreide, ein anderes bedeutendes Landesprodukt, von der Ostseite der grossen Docks auf die Schiffe verladen wurde, lagen die Barracas an dem Flüsschen Riachuelo, der in den Südteil des Hafens mündet, und in dem kleine Dampfer und Segelschiffe anlegten.

Mein Vater wohnte in dem Lagergebäude und ab und zu fuhren wir an Sonntagen, um ihn zu besuchen. Das war mit der Pferdebahn eine lange Reise quer durch die Stadt. Eine tief Sonntagsruhe hatte das Viertel der Lagerhäuser entvölkert. Wir beiden Jungens spielten gerne in dem nun leeren Lagerhof bis. wir nachmittags mit den Eltern eine deutsche Gastwirtschaft am Ufer besuchen durften, wo wo kleine geräucherte, knusprige Fische gegessen wurden. Ein am Kai vertäuter Dampfer kam mir Knirps so gross vor, dass ich fragte, ob es wohl ein Kriegsschiff sei.

Die Stellung in der Barraca war aber auch nicht von Dauer. Es müssen damals, viele Jahre vor dem ersten Weltkrieg, gute Zeiten gewesen sein, dass mein Vater trotz seines ständigen Versagens immer wieder eine neue Stellung fand. Er verliess einmal wieder die Hauptstadt, weil er eine neue Stellung im Kamp gefunden hatte. Dieses Mal fuhr er weit fort, bis in den südlichsten Zipfel der Provinz Buenos Aires, Luftlinie ungefähr eintausend Kilometer. Es war im Raume der Stadt Patagones, wie der Name andeutet, schon fast in Patagonien. Patagonien heissen die drei riesenhaft ausgedehnten, aber kaum bevölkerten drei Südprovinzen des Landes: Rio Negro, Chubut und Santa Cruz. Das heisst, es waren damals keine selbständig regierten Provinzen, sondern Gouvernements, die von der Zentralregierung verwaltet wurden Der Rio Negro, an dessen Nordufer Patagones liegt, begrenzt Patagonien ungefähr nach Norden, und die südlichste Provinz, Santa Cruz, stösst an die Magallanes Strasse. Im Osten grenzen alle drei an den Atlantik und enden auf dem Kamm der  angrenzenden Cordilleren, der Anden, gleichzeitig Landesgrenze gegen Chile.

Der Distrikt Patagones lag nun noch nicht im Verwaltungsraum Patagones, aber das Land hatte bereits deren Charakter, nämlich weite, flache Steppen mit dürftigstem Grasswuchs und ohne einen einzigen Baum, ausser am Ufer der wenigen Flüsse. Dort war kein Getreideanbau möglich, und es lohnte sich nur Schafzucht.

Dorthin war mein Vater gezogen, und es sah aus, als habe er jetzt eine feste Dauerstellung. Also entschloss sich meine Mutter, ihm nachzuziehen. "Die Frau gehört zu ihrem Manne," sagte sie zu Direktor Ruge, dem Leiter der "Germania Schule", der ihr abriet. Sie hat es später bereut, dessen Rate nicht gefolgt zusein, und eine Existenz aufgegeben zu haben, die sie sich in Buenos Aires aufgebaut hatte, um nun in ein sehr ungewisses Schicksal zu fahren.

Textfeld: 1906Mit einer Weihnachtsfeier in der "Germania Schule", ich kam in die Sexta, endete dieser Abschnitt meines ersten bewusst erlebten Stadtaufenthaltes, und im Januar 1906 zog ich mit meiner Mutter nach dem Süden.

Kurt blieb in Buenos Aires als Pensionär einer bekannten Familie denn er war ein sehr begabter Schüler und sollte nicht aus der Schule genommen werden. Er war damals Quintaner. Ich war gerade nach Sexta versetzt und sollte im Kamp wieder von meiner Mutter unterrichtet werden. Ich blieb genau zwei Jahre von Buenos Aires fort; meine Mutter hat: mich also durch Sexta und Quinta geschult, und ich bin später, ohne eine Lücke zu spüren, wieder mit meiner alten Klasse weiter gekommen. Es war für meine Mutter eine beachtliche Leistung, denn das Pensum einer Realschule ging doch über den Rahmen ihrer seminaristischen Ausbildung hinaus, besonders in Geometrie und Sprachen. Natürlich war ich als Junge im Kamp nicht erbaut davon, jeden Morgen Schulstunde halten zu müssen. Ich hatte mein eigenes Pferd und trieb mich natürlich lieber bei den Knechten, dort "peones" genannte, umher. Ich war aber doch zu gesetzesfürchtig, um vom Unterricht einfach davon zu laufen oder wegzureiten. Darum wählte ich meist den Mittelweg, ich hielt mich unsichtbar aber in Hörweite des Hauses auf, und wenn der Ruf meiner Mutter erklang, kroch ich aus Schuppen oder fernen Winkeln hervor. Einmal sass, ich auf dem Hof, genau vor der Küche, aber unter einer grossen, umgestülpten Kiste, in der Hoffnung, meine Mutter würde mich und die ganze Schulstunde vergessen, wenn sie mich nicht sähe.

Ausser den allgemeinen Feiertagen, die in Argentinien sehr zahlreich- Sind, legten wir noch zusätzliche Feiertage ein, die aus örtlichen Verhältnissen entstanden, z.B.. die Schafschur. Dieses alljährliche Ereignis spielte natürlich in einer Gegend, die ausschliesslich von Schafzucht lebt, eine grosse Rolle. Die Schafe leben in Patagonien nicht wie in Europa in kleinen Teeerden, von einem Schäfer von Wiese zu Wiese getrieben. Das Weideland ist sehr mager, so mager, dass in unserer Gegend dort nur Schafe davon leben konnten. Pferde und Rinder mussten zusätzlich, gefüttert werden. Sie bekamen Alfalfaheu und Maiskörner. Es war so schwer Kühe zu halten, dass sie auch gar keine Milch gaben. Hatte eine Kuh ein Kalb, so gab sie täglich nur ein bis zwei Liter Milch und die waren dringend für das Kalb nötig. Wir Menschen mussten mit Büchsenmilch auskommen. Wenn ich an die Büchsenmilch der Jahre um 1906 denke, packt mich heute noch ein Schrecken. Wir probierten alle Sorten aus, gesüsste und ungesüsste, die alle nach Blech schmeckten und wie dicker Schleim waren, oder gar pulverisierte Milch, die besonders unappetitlich war. Mir war für immer jegliche kondensierte Milch ungeniessbar geblieben und ich meine immer, den Nachgeschmack von Blech zu spüren. Dafür waren wir aber reich an Eiern. Die zahllosen Hühner legten in solcher Fülle, dass wir Eier als Milchersatz hatten. Ich schlug beispielsweise Eigelb zu solch milchigem Schaum, dass er dem Wasserkakao einen milchigen Geschmack gab. Da auch die argentinischen Hühner eine Zeit haben, wo sie nicht legen, wollten wir diese Zeit durch eingelegte Eier überbrücken. Aber in was einlegen? Garantol oder andere moderne Mittel waren noch nicht erfunden. Uns wurde geraten, in Salz, Asche oder Kalk einzulegen. Wir versuchten es mit je hundert Eiern in jedes der drei Mittel. Die eine Serie wurde faul, ich glaube die in Asche. Die im Kalk waren zu einer festen Felsmasse erstarrt, und ein Bildhauer hätte eine Büste daraus meisseln können. Es war nicht ein einziges Ei heil herauszuholen. Aus den Hohlräumen des Kalkblocks flossen Eigelb und Eiweiss.

Doch zurück zu den Schafen. Die hunderte oder tausende von Schafen weideten frei in der Steppe, deren Unendlichkeit eingeengt durch Stacheldrahtzäune. Solch ein umzäunter Abschnitt hatte aber mindestens die Ausdehnung von einer argentinischen Meile ("legua") im Quadrat, also 5 x 5 km. Die Schafe frassen sich also langsam über die grosse Fläche und kamen ein Mal täglich an eine Tränke. Teiche und Bäche gab es in der trockenen Gegend nicht: Eine von Windrädern angetriebene Wasserpumpe füllte einen eisernen Tank, aus dem eine Tränke gespeist wurde. Die Windmühle war gänzlich unromantisch: ein hohes Eisengerüst mit Blechflügeln. Dort wo keine solche Windpumpe angelegt war, wurde das Wasser von Pferden aus einem Brunnen über einen Flaschenzug in Eimern hochgezogen und in die Trinkbottiche für die Tiere geschüttet.

Wenn im Hochsommer, also um die Jahreswende, die Schafe geschoren werden sollten, wurden sie von berittenen Peones und vielen Hunden am Vortage aus dem weiten Kamp zusammengetrieben und in grosse Hürden, "corrales" genannt, eingesperrt. Wandernde d.h. natürlich reitende, Kolonnen von. Scherern arbeiteten im Akkord und in einigen Tagen war die ganze Herde geschoren. Für diese Gelegenheitsarbeiter wurde kein Quartier bereitgestellt. Sie machten sich auf ihren Satteldecken in den Schuppen ein Lager. Beköstigt wurden sie mittags mit "puchero" das ist ein Eintopfgericht aus Hammelfleisch, Kartoffeln, Kürbis und - falls vorhanden - Gemüse. Abends wurde ein halber Hammel im Freien über offenem Holzfeuer am Spiess gebraten. Das ganze ergab eine Art Lagerleben. Nach Feierabend hockten die Peones um die Feuerstätten herum, tranken das Landesgetränk Mate und immer war ein Gitarrenspieler dabei. Die eingepferchte Schafherde blökte ohne Pause die Nacht hindurch, ab und zu durch bellende Hunde zur Ordnung gerufen.

Dass mir, dem Sextaner, dieses Lagerleben besser gefiel, als meine Schulstunden, wird jeder Junge begreifen. Ich spielte von Beginn der Schur an mit. Ich ritt schon im Morgengrauen mit meinem Gaul zu den Peones und hetzte die Hunde und brüllte die Schafe in einer erstickenden Staubwolke an. Abends wollte ich auch nicht den weichlichen Städter durchblicken lassen, der in einem Zimmer an einem gedeckten Tisch sass. Ich sass am Lagerfeuer bei den Peones und aß Hammelbraten vom Spieß mit einem im Gürtel getragenen Messer. Leider erlaubten mir meine Eltern, nicht auf meinen Satteldecken halb im Freien zu übernachten, sondern musste zimperlich in ein Bett kriechen, Ich war aber damals ein grosser Frühaufsteher und mit dem ersten Morgenlicht war ich schon wieder bei den Pferden und den Schafen. Einst wurde meine Mutter gewahr, das ich schon uns fünf Uhr aufgestanden war und verbot mir, vor sieben aus dem Bett zu steigen. Welch eine Qual war es darauf, morgens wach im Bett zu liegen, wenn die frühe Sonne an den Fensterläden vorbeistrahlte Wenn ich das damit  vergleiche, wie schwer mir in späteren Jahren immer das Aufstehen geworden ist!

Zwei Jahre blieben wir in "Tres Lagunas" Das war nicht etwa der Name einer Ortschaft, denn es gab in der spärlich bewohnten Ebene keine Siedlungen. Die Menschen wohnten einzeln und weit verstreut. Mein Vater leitete ein Geschäftshaus im Kamp, ein sogenanntes "almacen de camp", das ist ein Laden und Lager, in dem der Kampbewohner alles einkauft, was er braucht und wo er auch seine ganze Wollernte verkauft. Tres Lagunas lag sehr weit von Buenos Aires. Erst fuhren wir eine Nacht im Eisenbahnzug bis Bahia Blanca und von dort nach einen halben Tag weiter bis zum Bahnhof Rio Colorado an der damaligen Südbahn, heute alles Staatsbahnen. Der Ort Rio Colorado, dort wo die Bahnlinie diesen Fluss schnitt, bestand nur aus sehr wenigen und primitiven Häusern und Wellblechschuppen. Mein Vater hatte dort Pferd und Wagen abgestellt und wir hatten nun noch zwei Tage zu fahren, bis wir am Ziel waren. Heute ist das Eisenbahnnetz dichter und wird durch Omnibusse ergänzt.

Die ganze Strecke, die wir im Wagen abfuhren, war Steppe ohne Abwechslung, keine Bäume, sondern nur kurzes Grass und in gleichmäßigen Abständen Dornbüsche. Für einen zehnjährigen Jungen spielen Naturschönheiten keine Rolle und mir gefiel die Gegend gut. Ich wurde zu einem Gemisch von einem europäisch erzogenen Städter und einem Kampjungen. Mein Ehrgeiz war, nicht von der einheimischen Jugend abzuweichen, was mir nie ganz gelang, obwohl ich Spanisch nicht nur sprach, wie jeder im Lande geborene, sondern genauso furchtbar und unzüchtig fluchen konnte wie jeder Peon. Die Kunst war, auf jedes Schimpfwort ein anderer zu setzen, dass sich reimte. Was diese unsagbar zotigen Schimpfworte eigentlich bedeuteten, habe ich nicht gewusst, aber ich parierte jeden Ausfall mit einer sich reimenden Unanständigkeit und hatte manchen Lacherfolg. Ich hatte auch den Wunsch, in Kleidung nicht von anderen Jungens abzuweichen, was manche Meinungsverschiedenheit mit meiner Mutter auslöste. Wie war ich einst glücklich, als man mir einen großen, schwarzen Männerschlapphut konzedierte, in dem ich unmöglich ausgesehen haben muss, in dem ich mir aber wie ein echter Gaucho vorkam. Nur passte mein hellblonder Schopf nicht zur Kostümierung.

Dabei war ich doch gleichzeitig durch Jugendlektüre und die herrliche Knabenzeitung „Der Gute Kamerad“ voll im Geistesleben eines deutschen Jungen. Welches Glück für mich, wenn wöchentlich einmal Post kam und mir die Wochenzeitschrift mit der Fortsetzung der spannenden Erzählungen brachte. Die Post kam von Buenos Aires mit der Bahn und dann zwei Tage in einer Postkutsche über Land, wobei unterwegs manchmal ein Postsack beim Überqueren des Rio Colorado in den Fluss gefallen war. Bei der Unregelmäßigkeit der Zustellungen konnte ich nur damit rechnen, jede zweite Woche gleich zwei Nummern meiner Zeitung auf einmal zu bekommen.

Diese Kinderzeitung war mein einziger Kontakt mit der grossen Welt jenseits der großen Steppe. Wie war ich eines Tages voller Wichtigkeit empört, als ich in meinem Blatt las, dass der russisch-japanische Krieg zu Ende war. Da der Krieg 1905 endete und wir erst 1906 nach Patagononien gezogen waren, kann die Notiz in meinem  „Guten Kameraden“ auch nicht sehr frisch gewesen sein! Ich aber machte meinen Eltern den Vorwurf, mir solche historischen Ereignisse nicht erzählt zu haben und lobte meine eigene Zeitung. Sie ist mir übrigens bis zum Ende meiner Schulzeit ein guter Kamerad geblieben,

Ich litt im Kamp etwas unter Einsamkeit. Die wenigen Jungen in unserer Umgebung eigneten sich nicht als Spielkameraden. Es waren halbindianische, ungewaschene Kinder, die wieder Lesen noch Schreiben konnten. Sie konnten meine Vorstellungswelt nicht begreifen. Ich versuchte ihnen von der Hauptstadt, den Straßenbahnen und dem Zoologischen Garten zu erzählen, aber es waren gänzlich unverständliche Begriffe für diese Kinder, die noch nicht einmal ein richtiges Bett kannten. Die Familien in jener Einsamkeit kannten keine Trauungen und für ihre Kinder keine Schulen. Nur eine christliche Taufe hatten alle empfangen. Einmal im Jahr reise ein Pfarrer durchs Land und taufte in einem grossen Massenaufwand alle seit seinem letzten Besuch geborenen Säuglinge. Ehen wurden gelegentlich nachvollzogen, wenn der Weg in eine Ortschaft und damit in die Nähe eines Standesamtes führte. Die Kindern wuchsen auf wie die Lämmer und wurden ganz unmerklich vom Spiel zur Arbeit hinübergeführt. Ein Junge über zehn Jahren war schon zur Arbeit nützlich und konnte vielleicht sogar schon Geld verdiene.

Ich musste also meist alleine spielen. Ich versuchte, die Anregungen der gelesenen Indianergeschichten meiner Umgebung anzupassen. Ich hatte ja ein Pferd und ein Gewehr, allerdings nur eine Luftbüchse. Die Gegend war so ganz anders als in der Heimat Lederstrumpfs. Ich konnte mir auch den Begriff “Wald“ nicht so richtig vorstellen. Ich kannte Parks aus Buenos Aires, das waren ja auch viele Bäume beisammen, aber dazwischen waren gepflasterte Wege und Straßenlaternen. Überall sah man noch Menschen und Fahrzeuge. Lederstrumpf und seine Indianer dagegen verschwanden doch gänzlich im Walde. In unserem Kamp mit seinen dürren Dornsträuchern konnte sich kein Mann und auch kein Pferd verstecken. Da Auge reichte bis zum Horizont. Also jagte ich die wilden Indianer meiner Phantasie im offenen Kamp, schoss mit meiner Luftbüchse vom Sattel oder stehend über den Pferderücken, was sich mein gutmütiger Gaul gerne gefallen liess.

Einst waren wir zu Besuch bei einer deutschen Familie, eine Tagesreise im Wägelchen entfernt. Dort hatte man in der Nähe des Hauses so viele Pappeln beieinander gepflanzt, des es mir wie ein Wald schien, Ich kroch zwischen die Bäumchen und fand mitten drin eine Stelle, von der man nach einer Richtung tatsächlich nichts als Bäume sah. Das Kamp war dem Blick entschwunden. Ja, so musste wohl ein Wald sein, in dem sich wilde Trapper verstecken konnten.

Eine ereignisvolle Unterbrechung der zwei Jahre war ein langer Besuch in Patagones[2], als Gäste des Herrn Sassenberg, des Chefs meines Vaters. Meine Mutter und ich waren eingeladen, dort das Eintreffen meines Bruders zu erwarten, der in seinen Schulferien – in Buenos Aires von Weihnachten bis Ende Februar – uns besuchte. Er kam nicht mit Eisenbahn und Postkutsche, sondern reiste mit einem Küstendampfer, der die atlantische Küste entlang und dann den Rio Negro flussauf bis Patagones fuhr.

Mein Vater fuhr meine Mutter und mich in einer zweispännigen Kutsche nach Patagones, eine ermüdende volle Tagesreise. Er fuhr dann sofort wieder an seine Arbeit zurück. Herrn Sassenberg Firma gehörten viele Geschäfte, wie „Tres Lagunes“ und in Patagones war das Haupthaus. Am Unterlauf des Rio Negro lag diese kleine Hafenstadt, südlichster Punkt der Provinz Buenos Aires. Auf dem rechten Ufer des Flusses, Patagones direkt gegenüber, lag das Städtchen Viedma. Das gehörte zur Gobernacion Rio Negro und war somit erst eigentlich in Patagonien.

In Patagones hatte die Firma Sassenberg und Co ihre Lagerhäuser für die eingeführten Güter aller Art und daneben Lagerhäuser für Wolle und Felle zur Ausfuhr. Wolle wurde dort auch sortier und in Ballen gepresst.

Herr Sassenberg bewohnte ein schönes Haus in einem üppigen Garten. Nahe dem Ufer wurde aus der dürren patagonischen Steppe reiche Vegetation., Ich fand hier vieles, das mir im Kampf fehlte, z.B. Obst, Früchte waren im  Kampf eine ganz seltene Delikatesse, die von weither gebracht werden mussten. Hier am Fluss konnte man reichlich Obst ernten und ich konnte im Garten von Herrn Sassenberg auf einem riesigen Kirschbaum herumklettern und mich vollfuttern. Dann ab es hier Wasser in Hülle und Fülle, ja, man konnte sogar auf dem Fluss in Kähnen übersetzen. Es war eine wunderbare Spielgegend. Ich hatte das Glück, das sich unser Aufenthalt über Gebühr verlängerte, weil der Küstendampfer mit erheblicher Verspätung in die Flussmündung einlief. Wenn der Seewind das Wasser in die Flussmündung hineintrieb, staute sich der Sand zu einer Barriere, über die das Schiff nicht hinwegkam. So musste erst ein Windwechsel abgewartet werden, ehe der Dampfer flussauf fahren konnte.

Bei dem Aufenthalt in dem gepflegten städtischen Wohnhaus war mir auch etwas anderes ungewohnt. Man hörte den Regen nicht. Die Häuser im Kamp waren flache, einstöckige Bauten, die unter dem Wellblechdach nur eine dünne Bretterdecke zum Schutze gegen die Sonnenhitze hatten. Jeder noch so geringe Regenguss war wie ein fortissimo Trommelwirbel. In Herrn Sassenbergs Haus musste man zum Fenster hinausschauen, um zu wissen, ob es regnete.

Herr Sassenberg hatte Frau und Sohn in Hamburg. Er selber verbrachte stets eine Hälfte des Jahres in Argentinien und die andere in Deutschland. Während dese südlichen Sommers war in Argentinien Wollernte und damit für Herrn Sassenbergs Geschäft Saison und in der stillen Zeit, wenn in Deutschland Sommer war, konnte er nach Europa fahren. Den Haushalt in Patagones führte Fräulein Dagmar Schönnemann, eine Dame aus Dänemark, die für uns Jungens später Tante Dagmar rund eine mütterliche Hausfrau werden sollte.

Meine Mutter tat es gut, wieder einmal in einem gepflegten Haushalt leben zu können. In Tres Lagunas war alles primitiv., Die Tische waren von geschickten Händen im Hause selber gezimmert worden. Die Betten waren „cama jaula“ (Wörtlich: Käfigbett), so genannt, weil das Eisengesell so zusammengeklappt werden konnte wie ein Vogelbauer. Man schlief auch auf einem einheimischen „catre“, einem Faltbett aus zwei gekreuzten Holzreitern und darüber gespanntem Segeltuch. Schränke stellte man selber her, indem man die leeren Petroleumkisten übereinander nagelte, anstrich, und mit einer Stoffgardine versah.

Dagegen hob sich Herrn Sassenbergs großstädtisch möblierter Haushalt sehr ab. Aber diese schöne Zeit war nach wenigen Wochen zu Ende. Mein Bruder war eingetroffen und unsere Kutsche rollte uns zurück nach Tres Lagunas.

Es was 1907 und ich war 11 Jahre alt. Buenos Aires, die Stadt, die ich begonnen hatte, als Heimat anzusehen, lag 800 km Luftlinie entfernt. Das war 1907 eine grosse Entfernung. Es war für mich eine Anreise von 20 Stunden Eisenbahn, zwei Tage Pferde-Postkutsche und etliche Stunden im Einspänner gewesen. Dann hatte ich erst mit meinen Eltern das Ziel erreicht: Ein einsames Geschäft, eigentlich nur ein Kramladen, im Kampf am Nordrand von Patagonien. Ein Jahr lebte ich nun schon hier nur unter Schafen, Pferden und Dornbüschen.

Eines Tages war ich von unserem einsamen Wohnsitz als reitender Bote zum nächsten nachbarlichen Geschäftshaus geschickt worden. Ich glaube, es mangelte bei uns an Salatöl.

Ich hing eine Flasche in einen Sack an meine Sattel und ritt zu dem erwähnten nächsten Nachbarn, der etwa fünf Kilometer weit entfernt wohnte.

Dort band ich mein Pferdchen an die üblichen Pfähle und betrag das Haus – Laden und Kneipe in einem. Nach der Landessitte fiel ich nicht mit der Tür ins haus, sondern stand nach einem Grußwort zwischen den Erwachsenen herum und schwieg. Für meinen Kaufauftrag blieb noch viel Zeit. Der Sack mit der leeren Flasche blieb noch an meinem Sattel.

Der Wirt und Ladenbesitzer stand hinter seiner Theke, durch ein Gitter vor gewalttätigen Kunden geschützt. Auf dem gestampften Erdboden, ohne Tische oder Stühle, standen einige Viehhirten herum, die zu kleinen Besorgungen wie ich aus dem dornigen Kamo von ihren Schafherden angeritten gekommen waren.

Es wurde wenig gesprochen.

Plötzlich hörte man Räder heranrollen.

In jeder Abgeschiedenheit war jeder Huftritt und jedes Wagengeräusch ein Erlebnis. Alles spähte, wer wohl ankommen mochte. Es war einer der in jener Gegend für schnell Fahrten üblichen hochräderigen Einspänner mit Platz für nur zwei Personen.

Die Ankömmlinge, zwei Männer, standen bald zwischen uns. Beide blieben stumm; der dunkle Fahrer schwieg wie wir alle, weil man nach der Landessitte langsam auftaute. Sein blonder Insasse schwieg jedoch, weil er offensichtlich kein Wort Spanisch verstand.

Nachdem die Anwesenden gelegnetlich ein spärliches Wort über die Hitze oder über ein Pferd oder über einen Nachbarn gewechselt hatten, fragte der Fahrer des Einspänners nach seinem Weg. Er nannte als Ziel einen Namen, den keiner kannte und es setzte ein müßiges Geschwätz ein, ob de Fremde wohl diese oder jene Gegend meinte.

Ich sah mir den Blonden an., Ich zweifelte nicht daran, dass es ein Deutscher war. Ich sah auch seine Ratlosigkeit, denn er konnte sich noch nicht einmal mit seinem Fahrer verständigen. Wo mochte er wohl hinfahren wollen= Ich lebte schon lang genug in der Gegend, um die Namen aller Schafzüchter weit und breit zu kennen, besonders die der wenigen Deutschen. „Wenn er mich doch ansprechen würde“, dachte ich, und schaute den Deutschen scharf an. Er schaute sich verlegen in der Runde um und kam doch nicht auf den Gedanken, den strohblonden Jungen auf Deutsch anzureden, Nicht eine Sekunde kam mir etwa der Gedanken, ein deutsches Wort an den Fremden zu richten.

Das Gespräch der Einheimischen verlief ohne Ergebnis. Der Fahrer konnte nichts über sein Ziel erfahren. Er wurde mit vielen widersprechenden Ratschlägen in eine ungewisse Richtung entlassen. Wie ich später erfuhr, war die Richtung falsch, musste auch falsch sein, weil der Fahrer nach einem Namen gefragt hat, den niemand kennen konnte. Es war nämlich ein deutscher Familienname, der durch so viele Verstümmelungen spanisch sprechender Leute zu dem primitiven Fahrer gelang war, das selbst ich, das zweisprachige Kind, den mir bekannten Namen nicht wiedererkannte.

Wochen später besuchte der deutsche Fremde mit seinen Gastgebern meine Eltern und ich erfuhr den Zusammenhang. Hätte der Deutsche mich angesprochen, ich hätte ihn und seinen einheimischen Fahrer leicht auf den richtigen Weg weisen können. Aber er hatte das Wort nicht an mich gerichtet, obwohl meine Kinderaugen in ihn drangen. Aber das ich von mir aus den ratlosen Deutschen angesprochen hätte? Nein, das war für mich undenkbar. So liess ich ihn reisen und – wie ich damals instinktiv empfand – in falscher Richtung.

Textfeld: 1907

Als dann die Ferien wieder zu Ende gingen, wurde Kurt wieder durch Patagones auf den Weg nach Buenos Aires gebracht. Während des Wartens auf den Dampfer lud ihn Herr Sassenberg mit einigen Damen und Herren zu einem kurzen Lagerleben am sommerlichen Meeresstand ein., In dieser kurzen Zeit gewann Herr Sassenberg so viel Freude an meinem zwölfjährigen Bruder, dass er sich anbot, ihn mit nach Deutschland zu nehmen und dort auf einem Gymnasium ausbilden zu lassen. Die vorgeschlagene Trennung zwang meine Mutter zu einem schweren Entschluss, aber sie rang ihn sich ab, um dem begabten Sohn die erzieherischen Vorteile zukommen zu lassen. Bei der stets unsicheren wirtschaftlichen Stellung meines Vaters war es auch eine bedeutende pekuniäre Entlastung.

So fuhr Kurt Anfang 1907 mit Sassenberg und Fräulein Schönnemann nach Deutschland. Ich beneidete ihn um die Reise, die über Genua und durch die Schweiz gehen sollte. Kurt kam dann auf ein Gymnasium in Plön in die Quinta. Zum Entsetzen meiner Mutter musste er noch 1 1/2 Jahre Latein nachlernen, was ihm aber leicht fiel. Er wohnte in einer Schülerpension von Frau von Graffen und hat dort eine glückliche Zeit verbracht.

Als wir in Tres Lagunas ein zweites Jahr verbracht hatten, ging die Stellung wiederum zu Ende. Mein Vater hatte auch hier keinen Erfolg mit seiner Arbeit gehabt und konnte sich nicht halten. Da hiess es für meine Mutter, mit mir nach Buenos Aires zurückkehren und die Unterrichtsstunden neu beginnen. Wie bereute Sie, dem Rat des Schuldirektors nicht gefolgt, zu sein, als er vor der Reise in den Kamp warnte. Hätte sie doch vor zwei Jahren die Stelle an der Schule gehalten und dazu die vielen Privatstunden. Jetzt musste sie von vorne anfangen.

Textfeld: 1908Im Januar 1908 reiste ich also mit meiner Mutter fort von Tres Lagunas. Wir fuhren dieses Mal zwar wieder zur Eisenbahnstrecke zurück, aber mit der allgemeinen Postkutsche. Unser Vater brachte uns im eigenen Zweispänner nur bis an die Poststrecke, einige Stunden Wagenfahrt entfernt. Von dort hatten wir noch zwei volle Tage bis zur Bahnstation.

Die Kutsche war ein grosser, mit neun Pferden bespannter Wagen, der im sandigen Teil der Strecke noch weitere drei Pferde Vorspann erhielt. Auf der Hälfte der Strecke mussten wir den Rio Colorado überqueren. Dieser Fluss war zwar breit, aber nicht tief. Die rund zwölf Insassen der Postkutsche wurden in ein grosses, flaches Boot geladen, das von zwei Reitern über die Furt des Flusses gesohleppt wurde. Auf dem anderen Ufer stand eine zweite Postkutsche, die, vom entgegengesetzten Ende der Strecke kommend, sich regelmässig an dieser Stelle mitt der unseren traf. Mit dieser Kutsche fuhren wir bis zum Bahnhof Medanos der Südbahn. Medanos bedeutet Dünen. Der Name kommt von einem kurzen Wüstenstrich, den wir kurz vor dem Ziel passieren mussten. Grosse, hellleuchtende Wanderdünen wechselten mit festeren Sandbergen, die eine dünne Grasbewachsung zeigten. Hier hatten die zwölf Pferde schwer zu ziehen, um die schwere Postkutsche über die Sandwege zu ziehen. Überhaupt die Wege im Kamp. Da ist keine Strassenanlage vorhanden, sondern nur Trampelpfade von Pferden und eingefahrene Spuren von Wagenrädern.

Sassenberg hatte damals bereits den Versuch gemacht, ein Auto in Betrieb zu nehmen. Er unternahm damals eine Versuchsfahrt von Patagones nach Tres Lagunas. Vorher waren von den üblichen Transportkarren an der Reisestrecke Brennstoffbehälter abgesetzt worden. Während der Fahrt mussten ab und zu Pferde das Auto aus dem Sande ziehen. Wenn unterwegs ein Pferdegespann dem ungewohnten Fahrzeug begegnete, musste man anhalten und die Pferde an kurzem Zaum vorbeiführen, weil das scheue Kamppferd vor dem ungewohnten Vehikel einen jähen Seitensprung gemacht hätte. Die Pferde im Kamp sind so schreckhaft dass sie aus vollem Galopp einen Seitensprung machen, wenn ein verendetes Schaf oder sonst ein ungewohnter, heller Fleck zwischen dem Gestrüpp sie plötzlich überrascht. In Medanos hatten wir wieder moderne Reisemittel, denn wir fuhren mit der Eisenbahn in 1 1/2 Tagen nach Buenos Aires.

Ich war inzwischen elf Jahre alt geworden und mir schien das ganze recht abwechslungsreich und lustig zu sein. Meine Mutter litt aber unter einer grossen Sorge, denn sie musste wieder einmal in der fremdländischen Grossstadt für sich und mich ihr Brot verdienen.

In Buenos Aires wohnten wir zunächst nicht zusammen. Meine Mutter zog in ein englisches Damenheim in der Calle Belgrano, und ich wurde bei der mit uns bekannten Familie Meier aufgenommen. Dieses waren alte Bekannte von uns, die zwei Töchter in meinem Alter hatten. Einige Zeit später zog dann meine Mutter auch noch zu Meiers, und wir bewohnten zusammen ein geräumiges Zimmer im "altillo". So nennt man in einstöckigen Häusern das am Ende des stets langgestreckten Hauses über der Küche gebautes Zimmer, das alleine im ersten Stock liegt. Die Küche ist stets weniger hoch als die Wohnräume, und der Altillio ist gewissermassen ein Zwischenstock, dem allerdings kein weiteres Stockwerk folgt. Das Flachdach über den Wohnräumen "azotea" genannt, kann zum Aufenthalt dienen, wenn die Familie an heissen Sommernächten Erfrischung sucht. Zum Altillo führt stets eine eiserne Wendeltreppe und man gelangt in das oder die Zimmer über einen Balkon.

Dieser Balkon regte meine Phantasie an und in einsamen Spiele war er für mich die Plattform einer Strassenbahn. Ich war der Fahrer und aus Wäscheklammern hatte ich mir eine Art Schalthebel und Bremshebel gebaut und an den senkrechten Stangen des Balkongitters angeklemmt. Zwischendurch spielte ich dann auch Schaffner und ging in den Strassenbahnwagen, d.h. in das Zimmer, um Fahrkarten zu verkaufen. Die Fahrkarten hatte ich mir selber aus Papierstreifen gemacht und als Knipszange diente eine weitere Wäscheklammer, in deren eines Ende ich einen Stift getrieben hatte, der die Karten lochte War es dunkel und ich musste im Zimmer weiterspielen, blieb mir die Strassenbahn immer noch Vorbild. Ich liess einen Griffelkasten unter einem horizontal gespannten Faden über den Tisch gleiten und ein Blaustift auf dem Deckel des Kastens war die Stange der Strassenbähn.

Die Strassenbahn erfüllte meine ganze Phantasie. loh kannte fast alle Linien der grossen Stadt, damals schon Millionenstadt. Damals waren es noch viele verschiedene Strassenbahngesellschaften, und jede hatte Wagen anderer Bauweise. Alles das war mir riesig interessant und ich kannte die Bedienung des Antriebes und der Bremsen bei jeder Gesellschaft. Ich hatte auch die Freude, zur Schule mit der Strassenbahn fahren zu dürfen und suchte immer den Sitzplatz auf der ersten Bank, wo man dem Fahrer zusehen konnte. Leider durfte man in Argentinien nicht vorne bei dem Fahrer stehen.

Mit den Mädels im Hause spielte ich wohl zusammen, aber meine Interessen waren ja nicht in alllem den ihren gleich. Wenn wir zusammen Ballspiele machten, war es schön. Aber den literarischen Geschmack der beiden fand ich beschämend. Wir sassen manchmal zusammen, um abwechselnd vorzulesen. Da kamen so unbegreiflich peinliche Sachen von Liebe vor, während ich mehr von Seeräubern und Abenteurern hielt. Ausserdem war bei den Mädels die Sprache schon auf sehr naseweise Fragen über gewisse verbotene Wege der Liebe oder auch über deren kommerzielle Seite gekommen. Diese Fragen waren mir vollkommen gleichgültig, ich war auf diesem Gebiete gänzlich ohne Wissendurst. Ich fragte mich selber nie, wo die Kinder herkamen. Wo die Jungen beim Vieh herkamen, kannte ich aus

dam Kamp aus eigener Anschauung und hatte das auch interessant gefunden. Wo aber die menschlichen Kinder her kamen, wusste ich nicht und war diesetwegen aber auch nicht neugierig.

Viel interessanter waren mir, wie schon Jahre zuvor, Streifzüge durch die Stadt zu machen. Allerdings wanderte ich nun nicht mehr zum Hafen, sondern in unbekannte, ferne Vororte Die Innenstadt mit ihrem starken Verkehr war mir noch zu unheimlich. Dieses Gebiert sollte ich in späteren Jahren als Lehrling noch genug kennen lernen.

Die Schule machte mir wenig Sorgen. Ich war ein normaler Schüler mit durchschnittlichen Leistungen geworden und fiel weder günstig noch ungünstig auf.

In der "Germania Schule" hatte ich viele alte Kameraden wiedergefunden. Es war alles wie früher. Wir Kinder sprachen Spanisch, obwohl die Lehrer darüber schimpften und verlangten, wir sollten Deutsch untereinander reden. Ich übte wieder in der Gesangstunde deutsche und argentinische vaterländische Lieder. Dem Gesanglehrer Uebe fielen nach wie vor die losen, steifen Manschetten, damals "Röllchen" genannt, über die Hände, wenn er zum Fortissimo im Refrain der Nationalhymne den Taktstock schwang.

Meine Mutter hatte inzwischen mühsam wieder eine Anzahl Sprachstunden zusammenbekommen. Die feste Stellung an der deutschen Schule hatte sie ja vor zwei Jahren aufgegeben. Die Privatschüler waren meist Kinder aus reichen Häusern, die Deutsch lernen sollten. Es waren durchweg sehr unerzogene Kinder, wenn auch oft sehr begabt. Der Unterricht war keine Freude. Leider war an der "Germania Schule" zu jenem Zeitpunkt keine Stelle frei.

Ich kannte den Stundenplan meiner Mutter gut und stand oft abends an einer bestimmten Haltestelle der Strassenbahn, um meine Mutter abzuholen. Ich versteckte mich aber immer hinter einem grossen Briefkasten, und wenn sie suchend festgestellt hatte, ich sei heute nicht da, kam ich plötzlich doch hervorgesprungen, um sie zu überraschen. Als ich wenige Monate später nach Deutschland abgefahren war, empfand meine Mutter meine Abwesenheit am stärksten, wenn sie an der bewussten Haltestelle wusste, dass ihr Jung nun wirklich nicht hinter dem Briefkasten hervorspringen konnte.

Mein Vater kam inzwischen auch nach Buenos Aires und wohnte in einer Fremdenpension dor Innenstadt. Er schlug sich schlecht oder recht durch. Ich weiss nicht, ob er eine Stellung hatte oder als Vertreter arbeitete. Für seine Familie hat er nie in seinem Leben wieder gesorgt. Im Gegenteil, seine Einkommensverhältnisse wurden im Laufe der Jahre immer schlechter. Er wohnte später wieder mit uns zusammen, und meine Mutter trug allein die vollen Kosten des Haushaltes.

Damals kam von den Geschwistern meines Vaters aus Deutschland das gütige Angebot, meine Mutter in ihren schweren Aufgaben zu entlasten und die Kosten meiner Erziehung in Deutschland zu übernehmen. Meine Mutter entschloss sich nun, sich auch von ihrem anderen Jungen zu trennen. Es muss ein harter Entschluss gewesen sein, bei so anstrengender Berufsarbeit noch nicht einmal die Freude an den Kindern zu haben.

Wenn nun Kurt von Herrn Sassenberg und ich von Tante Anna Wolters mit Onkel Carl Farwig finanziell unterstützt wurden, so bezog sich das auf Schulgeld uns Pensionskosten. Nebenbei bestritt meine Mutter alle übrigen Kosten für Kleidung, Anschaffungen und Nebenausgaben. Sie musste noch einen guten Teil der finanziellen Last tragen. Da aber nun beide Söhne in Deutschland lebten, konnte sie ihre Kraft ganz der Berufsarbeit hingeben.

Anfang Oktober 1908 wurde ich also nach Deutschland geschickt. Ich war gerade 12 jähre alt geworden und ging in die Quarta der "Germania Schule" in Buenos Aires. Da der Lehrplan sich streng an die Oberrealschulen in Deutschland hielt, konnte ich auch damit rechnen, dort in Quarta aufgenommen zu werden. Das argentinische Schuljahr ging nicht von Ostern zu Ostern, sondern mit dem Kalenderjahr. Danach musste ich ja noch ein Vierteljahr Vorsprung haben und verlor nichts durch die Reisezeit.

Diese Dinge beschäftigten mich aber gar nicht, denn vor mir lag zunächst eine sehr interessante Seereise. Welches Opfer es für meine Mutter bedeutete, nun auch den zweiten Sohn nach Europa zu geben, davon wusste ein zwölfjähriger Junge nichts. Mir war es unverständlich und eigentlich etwas peinlich, als meine Mutter auf dem Schiff beim Abschiednehmen trotz aller Tapferkeit einen Ansatz zum Weinen zeigte. Ich war froh, als ich mich endlich frei in der interessanten neuen Umgebung bewegen konnte.

Seereisen waren 1908 nicht so schnell wie heute. Die modernsten Schnelldampfer brauchten damals von Hamburg nach Buenos Aires 21 Tage. Aber ein junge von zwölf wird nicht mit dem modernsten Dampfer verschickt. Es gab Frachtdampfer, die eine geringe Zahl von Passagieren beförderten, wenn es hoch kam hundert Stück. Ich:reiste aber in dar stillen Saison, d.h. vor Einbruch dos europäischen Winters, wenn der Strom der Reisenden zurück nach Südamerika zieht. Also war meine „Belgrano" besonders schwach besetzt. Der starke Reisestrom zwischen Südamerika und Europa ging damals und ich nehme an es ist heute noch so, auf dasjenige Land zu, in dem jeweils Frühling war. Sowohl die Luxuspassagiere wie die Erntearbeiter reisen immer dem Sommer nach. Da wir im argentinischen Herbst abfuhren, um in Europa im Winter anzukommen, war das Zwischendeck des Dampfers gänzlich unbesetzt, und es fuhren mit mir nur rund zwanzig bis dreissig Kajütpassagiere, darunter sieben oder acht Kinder. Wir konnten nach Lust über das ganze Schiff tollen, denn die Decks waren meistens leer.

Übrigens reiste ich nicht ganz so selbständig wie ich mir vorkam. Denn eine uns bekannte Familie Stange aus Buenos Aires reiste an Bord, und meine Mutter hatte mich Krau Stange in Obhut gegeben. Der Vater war Prokurist der bedeutenden deutschen Firma Engelbert Hardt & Co. aus Buenos Aires. Er war dort zu Vermögen gekommen. Plötzlich war er unheilbar geisteskrank geworden, und nun reiste Frau Stange mit ihrem kranken Mann und mehreren Kindern nach Deutschland zurück. Der älteste Sohn, etwas jünger als ich, teilte eine Kabine mit mir. Es war aber keine grosse Freude, diesen Gefährten zu haben, denn er war ein grosses Rauhbein, was mir nicht lag. Mein Herz hing mehr an Indianerbüchern und Strassenbahnen als an Raufereien.

Die Reise ging sehr gemächlich vor sich. Die "Belgrano" brauchte 28 Tage bis Hamburg. Es wurde oft gehalten um Ladung zu löschen oder zu nehmen. Gleich in Montevideo machten wir einen ganzen Tag Station, ohne dass allerdings die Passagiere an Land gingen. Montevideo liegt am linken Ufer des Rio de La Plata, dort wo die riesige Flussmündung ins Meer übergeht. Das Wasser hatte bereits die dunkle Lehmfarbe verloren und nahm eine zartgrüne Farbe an. Es war auch bereits leicht salzhaltig. Als wir Montevideo verlassen hatte und nordwärts an der Küste entlang fuhren, wurde das Wasser ständig dunkler, bis die tiefblaue Farbe des offenen Ozeans erreicht war.

Nun gab es lange keinen Aufenthalt mehr, denn wir fuhren an der brasilianischen Küste vorbei, ohne anzulegen. Ab und zu erblickten wir ein Stückchen Land, wenn die Fahrstrasse des Schiffes an einem der Vorgebirge vorbei führte. Sonst sahen wir wochenlang nichts als Wasser. In den ersten Tagen musste ich den Tribut an Gott Neptun mit arger Seekrankheit bezahlen. So ist es mir später auf allen Seereisen gegangen, dass ich anfangs einen Anfall der Seekrankheit bekam und später nur bei sehr schlechtem Vetter weitere Gesundheitsstörungen.

Seekrankheit ist die lächerlichste Krankheit, die es gibt. Man ist kraftlos und unglücklich. Dauernd wird einem übel. Man ist sich selber zur Last und empfindet die Würdelosigkeit der Lage. Dazu wird man noch von allen gesunden Reisenden ausgelacht.

Nach einigen Tagen war ich aber wieder voll auf dem Damm und genoss die Reise. In San Vicente, einer der Kap-Verdischen Inseln, war die erste Kohlenstation und wir durften an Land gehen. Hier im Hafen sah ich zum ersten Male Negerjungen nach Geldmünzen tauchen. Für ein grösseres Geldstück tauchten sie sogar unter dem Kiel des Dampfers hindurch. Wir wurden in Ruderbooten an Land gebracht und machten einen Eselritt durch die bergige Gegend. Ich hatte als Junge keinen grossen Sinn für Natur und war ja darin auch nicht verwöhnt worden, aber das konnte sogar ich erkennen, dass die Insel San Vicente eine furchtbare Einöde war. Steinige Hügel und baumlose Pfade, die man nicht Strassen nennen konnte, entlang Negerhütten sind meine einzige Erinnerung. Angeblich sollte auf dieser portugiesischen Insel der Gouverneur als einziger Weisser leben. Der Hafen bestand aus einer riesigen, felsenumstandenen Bucht. Dieser vorzügliche Naturhafen bildete für die Schifffahrt eine gute Kohlenstation. Als Sehenswürdigkeit wurde auf die Silhouette einer der umgebenden Landzungen hingewiesen, die das liegende Napoleons angeblich wiedergab. Hiervon wurden Ansichtskarten verkauft.

Als grossen Kontrast erlebten wir einige Tage später den Hafen von Funchal auf der Insel Madeira,

Ich muss hier erwähnen, welchen Zauber auf mich bei allen Seefahrten und ganz besonders als Kind die Erwartung eines auftauchenden Landes ausübte. Ich hatte urspünglich geglaubt, es würde sich zunächst ein kleiner Punkt scharf vom Horizont abheben. Statt dessen erblickte ioh das Land zuerst, wenn es schon in beträchtlicher Grösse am Horizont erscheint, aber es kriecht blass und verschwommen aus der diesigen Luft hervor und man ist Anfangs im Zweifel, ob es nicht nur eine Wolkenbank ist. Wenn man dann erfahrener ist und diese blassen Konturen des erwarteten Landes sucht, kommt man umgekehrt in. Versuchung, jede Wolkenbank für Küstengebirge zu halten.

Madeira kam uns so aus nebelhafter Ferne nähergeschwommen, und wir fuhren am frühen Morgen in eine Bucht ein, die fast so gross schien, wie die von San Vicente, aber das ganze Panorama war anders. Alles war bewachsen und an den grünen Hängen kletterten die Häuser der Stadt Funchal empor.

Wieder zogen wir an Land, dieses Mal in einer grossen Barkasse und statt der Reitesel erwartete uns eine Pferdebahn, die uns durch enge Strassen fuhr. Hier erblickten wir zum ersten Mal, dass das Hauptgefährt des Landes nicht der Wagen sondern ein Schlitten war. Ein Schlitten in den schneelosen Tropen, der über das Kleinpflaster aus Lavasteinen glitt.

Von der Stadt Funchal zog uns eine Zahnradbahn durch üppige Gärten auf den Berg. Kinder sprangen unterwegs auf die Trittbretter der offenen Wagen und boten uns Blumen zum Verkauf, die sie aber, da keiner kaufen wollte, grosszügig verschenkten.

Auf dieser Fahrt erlebte ich zum ersten Mal den Anblick eines richtigen Waldes, bisher für mich ein unklarer Begriff. Ich hatte mir immer vorzustellen versucht, wie so ein Wald wohl aussehen möge, da er in den Indianergeschichten und in allen deutschen Erzählungen stets eine so grosse Rolle spielte. Weder die magere Vegetation der Pampa. noch die spärlichen Anlagen in Buenos Aires oder die Trauerweiden an den Ufern der Flüsse schienen mir das zu sein, das Jäger und Krieger durchstreiften. Erst hier auf Madeira erblickte ich richtigen Wald.

Von einer Aussichtsterrasse unter dem Gipfel des Berges schauten wir auf die tief unten gelegene Bucht und suchten unsere "Belgrano" unter den vielen Schiffen, die wie Spielzeug in der Bucht lagen. Die Talfahrt bot uns als Erlebnis eine Fahrt im Schlitten über die glatten Strassen hinab. Wir sassen wie in einem Kutschbock, und zwei starke Männer steuerten und bremsten den Schlitten, indem sie teils hintenaufstanden, teils nebenher liefen und an den rechts und links befestigten Stricken zurückzogen. Unter den harten Holzkufen sprühten Funken, und rochen den den brenzlichen Duft des erhitzten Materials.

Nach Madeira gab es keinen Aufenthalt mehr. Wir kamen stetig nördlicher. In der Bucht von Biscaya traf uns das übliche schlechte Wetter. Das Schiff schlingerte, das man sich Schritt für Schritt festhalten musste, und zeitweise durften die Passagiere garnicht an Deck. Im Speisesaal wurden über die gedeckten Tische durch längs und quer gespannte Leisten rechteckige Felder geschaffen, in denen Tassen und Teller gegen Abrutschen gesichert waren, sogenannte Schlingerleisten. Die Möbel konnten weder umfallen noch abrutschen, denn von den Stühlen bis zum Klavier war alles auf dem Boden festgeschraubt.

Langsam wurde es auch kälter. Nach und nach verschwanden die weissen Uniformen der Schiffsoffiziere und die Passagiere holten auch wärmere Kleidung heraus.

Als wir durch den Ärmelkanal fuhren, wollte man uns Kindern weis machen, wir hätten die Kreidefelsen von Dover gesehen, obwohl es schon fast dunkel war. Da es in damaliger Zeit noch keinen Funkverkehr gab, signalisierte das Schiff mit bunten Leuchtkugeln sein Erkennungszeichen zur englischen Küste hinüber, damit von dort die Reederei Drahtnachricht über die baldige Ankunft am Zielhafen erhalten sollte. eines Morgens fanden wir uns im Hamburger Hafen. Über Nacht war das Schiff elbauf gelaufen. Wir hatten nur noch erlebt, wie vor Anbruch der Dunkelheit vor der Elbmündung ein Lotse an Bord gekommen war und waren an dem Feuerschiff "Elbe 1" vorbeigekommen.

Die Ankunft im Zielhafen ist immer ein Erlebnis. Auf einmal ist die Schiffsmaschine stumm, deren Pochen wochenlang ohne Pause im ganzen Schiff zu spüren ist. Statt endloser See umgibt einen plötzlich das enge Hafenbild. An langen Speicherhäusern liegen Dampfer über Dampfer. Die Ladebäume fangen bald an zu quietschen, nachdem sich Massen Hafenarbeiter über das Schiff ergossen haben und die Luken geöffnet wurden. Der Passagier hat sich landfein gemacht und steht mit hochgeschlagenem Mantelkragen fröstelnd bei seinem Gepäck herum und harrt der Entlassung durch den Zoll. Im Jahre 1908 kamen noch keine Passbeamte auf das Schiff. Man ging von Bord, wie man auf das Schiff gekommen war. Die Länder der Welt waren noch gastfreier zueinander.

Wir wurden damals auf einer Dampfbarkasse vom Schiff abgeholt. Mich empfingen zwei Onkels. Der eine war Carl Farwig, der Bruder meines Vaters, der als alter Junggeselle in Hannover wohnte. Ich war auch des Glaubens, bei ihm in seiner Wohnung verbleiben zu sollen. Er holte mich aber nur nur, um mich nach Kiel zu führen, wo ich zusammen mit Kurt, meinem Bruder, bei Fräulein Dagmar Schönnemann in Pension gegeben werden sollte. Der alte Junggeselle wollte die Unruhe nicht auf sich laden, die ein Schuljunge in seinen pedantisch geführten Haushalt bringen würde. Er hat aber in den vier Jahren, die ich in Deutschland zum Schulbesuch verbrachte, zusammen mit seiner Schwester Anna Wolters laufend erheblich zu den Kosten meiner Erziehung beigetragen. Der gute Onkel Carl war nun nach Hamburg gekommen, um mich von Bord zu holen. Ihn begleitete mein Onkel Arnold Brune aus Hamburg. Dieser lebte dort von den Zinsen eines kleinen, in Brasilien erworbenen Vermögens. Er war ursprünglich mit der zweiten Schwester meines Vaters, Tante Auguste, verheiratet gewesen. Diese war aber gestorben. Der einzige Sohn dieser Ehe, auch Arnold Brune, lebte inzwischen selber in Argentinien, wo ich ihn kurz vor meiner Abfahrt in Buenos Aires kennen gelernt hatte. Onkel Arnold hatte aber wieder geheiratet. Obwohl er verhältnismässig spät diese neue Ehe einging, er lebte damals schon im Ruhestand in Hamburg, hatte diese Ehe noch fünf Töchter«

Zu Brunes Haus in der Blumenau ging es also mit mir, und ich lernte auch Tante Anna Brune und die fünf Mädels kennen. Die älteste Tochter war fast so alt wie ich. Eigentlich war ich ja nur mit dem in Argentinien lebenden Sohn durch dessen verstorbene Mutter verwandt, aber ich bin als Kind und auch später als Erwachsener stets mit so viel Herzlichkeit bei Brunes aufgenommen worden, dass ich mich stets wie ein richtiger Vetter fühlte.

Zur Blumenau fuhren wir also. Es war ein sehr kalter Tag. Ich kam langsam dahinter, dass es in Deutschland viel kalter war als in Argentinien. Onkel Carl hatte mir als erstes einen richtigen Wintermantel nach deutschen Begriffen gekauft.

Mir kam vieles um mich herum komisch vor, z.B. dass alle Welt auf der Strasse Deutsch sprach, oder dass man sich auf der Strassenbahn auf dem Vorderperron aufhalten durfte, was in Argentinien nicht möglich war. Solch kleine Äusserlichkeiten, wie auch die fremd wirkenden Uniformen von Schutzleuten und Briefträgern, für die ich als Kind im neuen Lande empfänglich war. Ich entsinne mich auch meiner masslosen Überraschung als ich zum ersten Mal einen Möbelwagen sah; solch monströses Fuhrwerk hatte ich nie gesehen.

In Kiel holte mich Kurt vom, Bahnhof ab. Mir fiel das komische Mützchen auf, das er trug, nämlich seine Schülermütze. Den deutschen Jungens auf der Strasse mag umgekehrt mein Käppchen im Stile englischer Schulen, wie man sie auch in Buenos Aires trug, komisch vorgekommen sein.

In Kiel wurde ich also zu Fräulein Schönnemann gebracht, die wir Jungens nun Tante Dagmar nennen mussten. Wir kannten sie schon aus Patagones, wo sie Herrn Sassenbergs Haushälterin gewesen war. Sie hatte im Kieler Vorort Wellingdorf ein kleines Häuschen gemietet. Ich hatte es allerdings als geräumiges Haus in meiner Erinnerung. Als ich es aber 1939 anlässlich einer Autofahrt wiedersah, merkte ich, wie die Erinnerung vergrössert, denn es war wirklich winzig. 1962 wollte ich es mit Kurt wiedersehen, aber es war mit der ganzen Strassenzeile bei den Luftangriffen des letzten Krieges vernichtet.

Wenn es also auch klein war, so genügte das Haus für uns wenige Menschen reichlich, nämlich Tante Dagmar, Kurt, ich und ein junges rothaariges Dienstmädchen namens Therese. Der Sitte der damaligen Zeit entsprechend trug dieses Dienstmädchen über der Stirn auf seinen roten Locken ein weisses, steifes Gebilde, das Symbol der Dienststellung. Übrigens wohnte noch jemand im Hause, nämlich eine riesige dänische Dogge, Trofast gerufen, die mit aus Südamerika gekommen war. Da das Haus für eine so kleine Familie zu viele Zimmer hatte, war ein Raum des Erdgeschosses an eine Klucke mit ihren Kücken abgetreten.

In diesem Hause verbrachte ich meinen ersten Winter in Deutschland. Es war für uns Jungens sehr schön, denn wir hatten ein ganzes Haus mit Garten zum Spielen. Aber wir haben furchtbar gefroren, nicht beim Spielen, dafür tummelten wir uns zu sehr, aber in unserem Zimmer. Geheizt wurde im ganzen Häuschen nur der grosse Kachelofen im gemeinsamen Wohnraum, in dem auch die Mahlzeiten eingenommen wurden. In unserem Schlafraum war es derart kalt, dass Kurt und ich meistens in einem Bett schliefen, um uns zu wärmen. Wenn wir morgens aufstanden, war in unserem Waschbecken das Wasser zu Eis geworden. Dazu kam für mich als ganz neuer Eindruck der sehr kurze Tag der nördlichen Breitegrade. Es wurde erst Tag, wenn wir längst in der Schule waren, und um vier Uhr nachmittags fiel schon die Abenddunkelheit ein. Unser Tageslauf war auch dadurch interessant, dass unser Vorort Wellingdorf auf dem der Stadt Kiel gegenüberliegenden Ufer der Förde lag und wir mit einem Dampfer in die Stadt fahren mussten, um zur Schule zu gelangen. Die Fahrt führte zwischen den in der Förde verankerten Schiffen der damaligen "kaiserlichen Kriegsmarine".hindurch und an den grossen Werften vorbei. Es war eine gesunde Fahrt, auch in dem besonders kalten Winter, wenn die Ostwinde in die Förde hineinbliesen. Ein Klassenkamerad aus der Stadt, der mich ein Mal besuchen wollte, durfte nicht kommen, weil nach Ansicht seines Vaters an jenem Tage der Ostwind zu scharf blies. Darüber wunderte ich mich, denn wir Schüler von der anderen Seite der Förde mussten doch bei jedem Wetter die Dampferfahrt machen.

Leider blieben wir nur einen Winter in Wellingdorf wohnen und hatten nicht die Freude noch einen Sommer dort draussen herumzutoben. Tante Dagmar zog sich in dem kalten Haus Gelenkrheumatismus zu und wir mussten eine wärmere Stadtwohnung beziehen. Wir zogen nach Kiel hinein, Gutenbergstr. 16, in eine ganz unromantische Etage mit Zentralheizung.

Damit waren die schönen Dampferfahrten aus. Ich hatte aber an der Förde so viel Freude gefunden, dass ich von Beginn des Sommers an täglich ins Schwimmbad Bellevue ging und den ganzen Nachmittag im Wasser verbrachte. Schwimmen konnte ich noch nicht. Aber als wir die Sommerferien an einem See bei Plön verbracht hatten, konnte ich eines Tages von selber schwimmen, nur vom täglichen Spielen im Wasser, wobei ich ständig einen Schwimmgürtel getragen hatte.

In Plön hatte Herr Sassenberg ein Haus, "Villa Waldwinkel" , dass er aber nicht mehr als Sommeraufenthalt benutzte, da er den grössten Teil des Jahres in Argentinien lebte und seiner in Hamburg verbliebenen Frau entfremdet war. Das Haus war geräumig und voll eingerichtet. Es lag hoch über dem Trammer See, und alle Gärten und Wiesen bis zum Seeufer und zwischen zwei Wäldern gehörten zum Hause. Welch ein Raum für Jungens, um sich auszutoben! Wir liefen tagelang nur in der Badehose herum, hatten ein Boot zur Verfügung zum Rudern und Segeln. Wir luden andere Jungens ein, teilweise tagelang a1s Logiergäste und führten ein gesundes Dasein. Hier war es, wo ich ganz nebenbei eines Tages feststellte, dass ich ja nun schwimmen konnte. Als ich nach den grossen Ferien wieder in Kiel war, ging ich natürlich mit noch viel mehr Freude täglich zum Baden in die Förde. Bei einem so gesunden Leben im Freien entfremdete ich natürlich meinen Schularbeiten. Die Quittung kam mit dem Herbstzeugnis. Ich war um sechzehn

Klassenplätze heruntergekommen, in so vielen Fächern wies ich Lücken auf. Da setzte plötzlich, nach Konsultation meiner Lehrer, eine grosse Strenge ein: ich musste nachmittags fest vor meinen Schularbeiten sitzen, eine Sache, die ich in Monaten nicht gekannt hatte. Ich habe nie geistige Konzentration für Schularbeiten gehabt und konnte auch den Begriff des Studierens nicht erfassen. Las ich in einem Schulbuch etwas durch, sei es die verabscheüenswürdige Grammatik oder selbst in einem so schönen Fach wie Erdkunde, so waren meine Gedanken stets abgelenkt, und ich wusste nichts vom Inhalt des Gelesenen. Also pflegte ich mündliche Schularbeiten garnicht erst anzufangen, sondern machte nur die schriftlichen. Ich konnte nie begreifen, was Kurt immer so vor seinen Büchern hockte und sogar seine lateinischen und griechischen Texte laut vor sich hinlas. Er schien mir ein furchtbarer Streber zu sein und er war ja auch immer einer der Ersten seiner Klasse. Ich werde ihm dagegen wohl als grosser Faulpelz erschienen sein. Ich hüpfte mit meinen Klassenplätzen anfangs immer sehr wild auf und ab, mal guter Schüler, mal ein mässiger. Als wir später nach Berlin umzogen, entschied ich mich endgültig, immer unter den Letzten meiner Klasse zu bleiben.

Die Jugend kennt heute das System der Klassenplätze nicht mehr. Jede höhere Schule erteilte vier Mal im Jahr Zeugnisse. Aus jedem Zeugnis wurde die Durchschnittszensur errechnet, und die Schüler erhielten den ihn eigenen Klassenplatz in der Reihenfolge ihrer Durchschnittszensur. Man sass auch im Klassenzimmer in dieser Reihenfolge: Hinten links, in der Blickrichtung der Schüler gesehen, der "Primus" und vorne in der ersten Reihe endeten die Klassenletzten. Der Primus der Oberprima einer höheren Schule hiess „Primus Omnium". Also ich wurde im Herbst 1909 wegen übergrosser Faulheit an die Kette gelegt. Nachdem ich so zu strengem Fleiss gezwungen worden war, erreichte ich zu Weihnachten wieder ein gutes Zeugnis mit einem ehrenvollen Klassenplatz. So ging es auf und ab.

Textfeld: 1910Im Sommer 1910 waren wir wieder in Plön zu einem langen, gesunden Aufenthalt. Wir sollten aber nicht wieder nach Kiel zurückkommen. Da Fräulein Schönnemann in der Kieler Luft erkrankt war, wurde ein Wechsel nötig. Wir zogen nach den Sommerferien nach Berlin-Charlottenburg. Wir Jungens gingen sehr ungerne, denn wir fühlten uns in Kiel sehr wohl und hatten jeder einen schönen Freundeskreis. Diese vielen Schulwechsel haben uns Brüdern auch geschadet. Kurt kam in Deutschlang nun schon in das dritte Gymnasium. Als Quintaner kam er nach Plön, wechselte als Untertertianer nach Kiel, um nun im Laufe der Untersekunda erneut umgeschult zu werden. Mir, dem unzuverlässigeren Schüler, hat der Wechsel noch mehr geschadet, denn, wie ich gerade erzählte, nach der Umschulung von Kiel nach Berlin blieb ich ein schlechter Schüler.

Kurt fand im humanistischen Gymnasium in Charlottenburg ein Institut vor, dass seinen beiden vorangegangenen Schulen ebenbürtig war und die Umschulung erleichterte. loh kam dagegen an den beiden bereits überfüllten Oberrealschulen nicht unter und wurde in eine Realschule gesteckt, die zum Aufbau einer künftigen neuen Oberrealschule heranwuchs. Es war keine schöne Schule, weder im Gebäude noch in der Schülerkameradschaft. Das Durchschnittsalter meiner Klasse lag über dem üblichen Durchschnitt und ich war von da ab in meiner Klasse der Jüngste. Diese überreifen Grossstadtjungen taten weltmännisch erwachsen, obwohl erst Obertertianer und ich kam ihnen in meiner Matrosenbluse recht kindlich vor. Den Erzählungen ihrer frühen Amouren hörte ich auch sehr verständnislos zu. Ich habe auch in dieser Schule bis zum Schluss nie einen persönlichen Freund gehabt. Spielgefährten gab es genug, aber Freunde, wie unter meinen Kieler Klassenkameraden fand ich nicht. Schön wurde es für uns erst, als Kurt und ich Fühlung mit dem damals neu geschaffenen Wandervogel gewannen. Diese Bewegung war für das Jugendwandern unter den Schülern der höheren Schulen entstanden. Sie wurde von den Lehrern angefeindet, obwohl sie einen wunderbaren, gesunden Schritt zur Naturverbundenheit und Freude an der Heimat brachte. Natur und Sport galten damals noch wenig.

Die Sonntagswanderungen in das märkische Land waren für uns Grossstadtjugend erfrischend und bilden den schönsten Teil meiner Charlottenburger Erinnerungen. In den Ferien wurden auch lange Wanderfahrten in ferne Gaue gemacht. Wahrend des Krieges habe ich 1944 einige Monate in einer Kaserne in Berlin_Kladow gelegen und habe dabei die Landschaft wiedergesehen, wo wir Jungens dreissig Jahre früher unsere Lagerfeuer zum Abkochen gebaut hatten. Auf den sogenannten Weinbergern über Gatow wurde um die Zeit der Sommersonnenwende ein riesiges Johannisfeuer in der Nacht angezündet, das weit über die Havel leuchtete. Mit welcher Begeisterung genossen wir Schüler solche Fahrten!

Das ich in Berlin ein schlechter Schüler blieb, schreibe ich aber nicht auf die Ablenkung durch den Wandervogel, sondern auf den Altersunterschied zwischen mir und meiner Klasse. Die Lehrer behandelten mich als zu jung. Erstaunlicherweise war ich ein besonders schlechter Schuler in Sprachen, obwohl ich als Kind zweisprachig aufgewachsen war und später als Erwachsener gerade durch meine Sprachenkenntnisse meinen beruflichen Weg ebnen konnte. Aber ich hatte kein Gedächtnis für Grammatik. Als gelegentlich in der Schule französische und englische Austauschlehrer uns Unterricht erteilten, sprach ich munter Französisch und Englisch, als bewegte ich mich unter Ausländern. Aus dem Ausland war ich allerdings gekommen, aber von dort, wo Spanisch die Landessprache war. Die Gewohnheit des zweisprachig aufgewachsenen Kindes, in der fremden Sprache zu denken und nicht zu übersetzen, liessen mich auch mit geringen Kenntnissen Französisch und Englisch sprechen. Mein Lehrer sprach dazu ein monumentales Wort: Was nützt es Ihnen, wenn Sie die fremde Sprache sprechen können, aber schlechte Arbeiten schreiben?

Ich blieb also ein schlechter Schüler und blieb vor dem sogenannten "Einjährigen", der mittleren Reife, sitzen. Man nannte diesen Abschluss das Einjährige, weil es den jungen Mann befähigte, statt einer zwei- oder dreijährigen Militärzeit nur ein Jahr zu dienen und die Anwartschaft zum Reserveoffizier zu erwerben. Solch eine einjährige Dienstzeit war für die Rekruten mit erheblichen Kosten verbunden, denn sie wohnten nicht in der Kaserne, sondern auf möblierten Buden wie Studenten und mussten sich auch Extrauniformen halten. Ihnen stand auch ein länger dienender Soldat als "Putzkamerad" zur Seite. Es war eine systematische Vorbereitung für Klassengeist und Dünkel. In unserer Familie schwebte immer wie ein Damoklesschwert die Frage: Wer soll für die Söhne die Kosten der einjährigen Dienstzeit aufbringen? Der erste Weltkrieg wischte auch dieses kleine Problem hinweg.

Textfeld: 1912Zurück zur Schule. Ich blieb also Ostern 1912 in der Untersekunda sitzen. Ich hatte aber einen Vorteil, ich brauchte nämlich nicht ein ganzes Jahr zu repetieren. Die Abschlussprüfung für die mittlere Reife wurde nach einem halben Jahr wiederholt und ich konnte Herbst 1912 das Ziel erreichen. An einen Schulbesuch in der Oberstufe bis zum Abitur wurde bei mir nie gedacht. Erstens, wer hätte das denn bezahlen sollen? Und zweitens, lohnte es sich ja bei meiner unzulänglichen Begabung nicht. Dass ich noch ein halkbes Jahr in Deutschland bleiben musste, weil mir die Reife abgesprochen wurde, war für mich kein Feher. Dieses letzte halbe Jahr wurde nämlich das schönste Jahr mseiner Berliner Zeit, nicht etwa weil die Schule schöner geworden wäre, sondern weil ich im letzten Sommer besonders viel Freude und Erleben von bleibendem Wert durch die Wandervogelbewegung geniessen konnte. Im Herbst hatte ich dann endlich das Schulziel erreicht. Der Schuldirektor mir mein Abgangszeugnis aushändigte, sagte dazu: " Herr, Du gibst uns unser täglich Brot ohne all unser Verdienst und Würden!"

Ich habe die vier Jahre in Deutschland ziemlich kurz geschildert, denn schliesslich war dieser Abschnitt meines Lebensweges der jedes deutschen Jungen und von keinen besonderen Ereignissen, ausser den ungünstigen Schulwechseln, geschmückt. Ich war auch damals noch reicht unerwachsen. Obwohl bei Schulentlassung bereits sechzehn Jahre alt, hatte ich noch keinen Stimmwechsel durchgemacht. Meine Neigungen waren ganz die eines Schuljungen.

Ich war aber in diesen vier Jahren derart verdeutscht worden, dass ich die spanische Sprache gänzlich verlernt hatte. Als wir in Berlin einst auf alte Schulkameraden der Germania Schule aus Buenos Aires stießen, konnten wir uns nicht mehr an deren Gespräch auf Spanisch beteiligen. Nun sollte ich also zurück nach Buenos Aires. Ich verbrachte noch eine sehr schöne Ferienzeit bei den Verwandten meines Vaters in der Provinz Hannover. Mir als Jungen war nie zum Bewusstsein gekommen, welche Dankbarkeit ich den Geschwistern meines Vaters schuldete. Ein Kind nimmt mit grosser Harmlosigkeit an und fragt nicht warum.

Wenn auch Tante Anna Wolters damals noch eine begüterte Frau war, bis sie in der ersten Inflation ihr Vermögen verlor, so war doch Onkel Carl ein Rentner in beschränkten Verhältnissen, und er hat für mich finanzielle Opfer gebracht. Ich habe ihn nie wiedergesehen, da er während des ersten Weltkrieges starb.

Ende Oktober 1912 fuhr ich von Hamburg mit der "Cap Finisterre" in der zweiten Kajüte nach Südamerika zurück. In Hamburg verbrachte ich noch einige Tage bei Brunes. Onkel Arnold Brune war inzwischen gestorben, aber seine Frau war mit den fünf Töchtern gut versorgt zurückgeblieben. Ich kam mir unter diesen fünf Mädels, deren älteste ein Jahr jünger war als ich, furchtbar erwuchsen vor. Ich trug nun lange Hosen und statt der Sohülermütze einen richtigen Filzhut. Darüber hinaus schwenkte ich einen Spazierstock mit silberner Krücke, den mir Onkel Karl zum Abschied geschenkt hatte. Ich versuchte sogar zu rauchen, obwohl ich nicht zu einem Genuss gelangte. Nur meine Stimme blieb kindlich.

So kam ich als unreifer Jüngling nach Argentinien zurück. Die Seereise war nicht so schön, wie vor vier Jahren auf der "Belgrano", denn die "Cap Finisterre" war ein sehr grosser Schnelldampfer, der restlos überfüllt war, denn dieses Mal ging meine Fahrtrichtung mit der Saison zum Frühling hin. Ich fuhr bescheiden in einer verbilligten Abart der II.Klasse, die IIa genannt wurde. Diese und die II.Klasse waren scharf von der eleganten I.Klasse getrennt, die IIa auf dem Vorschiff und die II. achtern. Die erste Klasse beherrschte das Mittelschiff mit seinen Promenaden- und Sonnendecks.

Wir kleinen Leute bestaunten aus der Ferne die reichen Reisenden, die mit Schwimmbad, Bordkapelle und anderem Luxus viel mehr Freude genossen als unser enger Raum bot. Dafür schauten wir unsererseits wieder mitleidig auf die hunderte von Zwischendeckern herab, die die unteren Decks bevölkerten und beschmutzten. Es waren teils jüdisch-polnische Auswanderer, teils spanische Erntearbeiter, die nach Landesgruppen untergebracht waren. Sie wohnten unter Deck in schlecht gelüfteten Massenlagern, in Laderäumen, die je nach Saison Fracht oder Menschen beförderten.

In späteren Jahren verboten die Einwanderungsgesetze der überseeischen Länder das Befördern von Zwischendeckspassagieren, und es entstand die III.Klasse mit Kajüten einfachster Art, aber schliesslich doch Kajüten. Unsere IIa war nicht viel besser als die spätere III.Klasse, denn wir lagen zu sechs Mann in einer engen Kajüte, wo wir uns nacheinander an- und ausziehen oder waschen mussten. Für einen sechzehnjährigen Jungen sind solche kleinen Unbequemlichkeiten nicht spürbar. Spürbar war für mich nur die Langeweile. Übrigens: kaum war ich an Bord wieder von südamerikanischen Lauten umgeben, waren meine spanischen Sprachkenntnisse wieder da. Ich hatte Spanisch nicht vergessen, sondern die Sprache war ins Unterbewusstsein abgesunken und wurde durch Assoziation von den Stimmen spanisch sprechender Mitreisender wieder ins Oberbewusstsein gehoben. An Land kamen wir nur ein einziges Mal, nämlich auf einige Stunden in Lissabon, wovon mir jedoch kaum Erinnerungen geblieben sind.

Später verschaffte ich mir zum Zeitvertreib Arbeit bei einem Zahlmeistersassistenten, für den ich Listen schrieb. Dafür erntete ich ab und zu aus dem Kühlraum frische Früchte Das ist ein komisches Gefühl, wenn man einen gefrorenen Pfirsich wie einen kalten Stein in der Hosentasche trägt und er dort langsam auftaut, bis er weich und aromatisch wird, als sei er frisch gepflückt.

Der Kapitän eines solchen grossen Schiffes ist eine mächtige Persönlichkeit an Bord. Der unsere war aus früheren Jahren in Brasilien mit meinen Eltern bekannt und ich hatte mich bei ihm vorgestellt. Er gewährte mir die grosse Gunst, jeden Morgen um sieben mit ihm zusammen ins Schwimmbad steigen zu dürfen. Dieses war eine grosse Vergünstigung, denn das Schwimmbad, hoch oben auf dem Bootsdeck, steht nur der I.Klasse zur Verfügung. Das Schwimmbad auf einem fahrenden und schaukelnden Dampfer hat einen natürlichen Wellenschlag, als ob man Wasser in einer Schüssel hin und her schwappen lässt. Da machte mir das Schwimmen viel Spass.

In .Rio konnte ich nicht an Land gehen, weil mein Taschengeld es nicht erlaubte, und so habe ich diese einmalige Gelegenheit verpasst, die schönste Hafenstadt der Welt zu betreten. Aber selbst der halbtägige Aufenthalt in der Bucht von Rio war schon ein grosser Genuss, denn so viele Naturschönheit machte selbst auf mich Jungen Eindruck. Nach einer Reise von siebzehn Tagen, für die damaligen Verhältnisse sehr schnell, kamen wir in Buenos. Aires an. Wie armselig wirkte der lehmfarbige Rio de la Plata mit seinen gänzlich flachen Ufern, wenn man kurz vorher die Naturpracht der bewaldeten Berge um die Bucht von Rio herum .bewundert hat.

 



[1] per 2001 ca. 8000 Einwohner. Eine URL dazu ist http://turismobarato.com.ar/provincias/municipios/tornquist.htm

[2] heute “Carmen de Patagones”, bildet mit Viedma eine Doppelstadt mit insgesamt 75.000 Einwohnern (http://de.wikipedia.org/wiki/Carmen_de_Patagones)